Der Bilderwächter (German Edition)
Ilka.
Rubens große, einzige Liebe.
Die ihn zum Verbrecher hatte werden lassen.
Mir war schlecht.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich Ilka helfen sollte.
Und mir.
Liebste, wenn du diese Worte liest, bin ich nicht mehr bei dir. Zwei Jahre werden nach meinem Tod vergangen sein. Zwei lange, unvorstellbare Jahre, die du ohne mich verbracht hast. Ohne mich, aber nicht ohne meine Liebe, die den Tod überdauern wird.
Du bist mein Leben. Ohne dich will ich nicht sein.
Deshalb habe ich das Haus für uns gebaut.
Ein Haus für unsere Liebe.
Ilka ließ den Brief sinken. Blicklos starrte sie zu den Fenstern, hinter denen der Morgen graute.
Ein Haus für unsere Liebe.
Der Tee in dem großen Becher war kalt geworden. Das Frühstück stand unangetastet auf dem Tisch. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam keinen Bissen runter.
Schon gestern, nach dem Besuch in Thorstens Atelier, hatte sie Rubens Brief zum ersten Mal gelesen. Und dann die ganze Nacht schlaflos im Bett gelegen. Plötzlich waren Bilder hochgekommen, Bilder, die nicht mal Lara an die Oberfläche geholt hatte.
Du empfindest es als Gefängnis, Liebste. Noch.
Doch das wird sich ändern, sobald du begriffen hast, dass du zu mir gehörst.
Bis in alle Ewigkeit.
Ruben hatte den Brief in den Tagen ihrer Gefangenschaft geschrieben. Als er sie in diesem Haus eingeschlossen hatte, das ihrem Elternhaus so unheimlich ähnlich war. Damals, als er noch hoffte, sie werde sich seinem Willen beugen.
Dann wirst du auch begreifen, dass ich keine Wahl hatte. Ich konnte nicht zulassen, dass sie dich mir entfremden. Du und ich, Ilka, wir sind eins. Unsere Liebe ist groß und wahr. Du hast es nur vergessen.
Doch ich verzeihe dir …
Ruben? Er verzieh?
Ihr?
» Aber ICH verzeihe DIR nicht«, sagte sie und erschrak vor dem Hass in ihrer Stimme.
Als sie aufstand, schwankte sie, und das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Sie blieb eine Weile stehen, bis sie den ersten Schritt wagte. Ihr war furchtbar kalt, denn sie hatte nicht daran gedacht, die Heizung anzumachen, die sie über Nacht ausschaltete. Sie legte sich Wäsche, Jeans und Pulli zurecht und stellte sich unter die Dusche.
Versuchte zu vergessen. Doch Rubens Worte hatten schon Wurzeln geschlagen in ihrem Gedächtnis. Jedes einzelne auf den drei langen Seiten.
Eine Stunde später betrat sie die Kunstakademie in der Eiskellerstraße.
Passender Name, dachte sie, denn sie fror schon wieder.
In der Bibliothek stieß sie auf Marten. Sie freute sich darüber. Was sie jetzt brauchte, war ein unbefangenes Gespräch. Eines mit Worten, die diejenigen von Ruben überdecken, vielleicht sogar auslöschen konnten.
Es war kurz nach neun, und sie hatten die Bibliothek so früh am Morgen noch ganz für sich allein. Tageslicht sickerte in den Raum, ließ die künstliche Beleuchtung verblassen.
An Martens Fingern klebten Farbreste, also hatte er bereits gemalt. Manchmal, hatte er ihr anvertraut, stand er mitten in der Nacht auf und stellte sich an die Staffelei. Oder er malte ganze Nächte durch.
Er würde einmal bekannt werden, davon war Ilka überzeugt, denn er besaß diese undefinierbare Mischung aus Neugier, Kraft und Verzweiflung, die ein Künstler braucht, um ein unvergessliches Werk zu schaffen.
Schon jetzt, im Orientierungsstudium, war seine außergewöhnliche Begabung den Professoren aufgefallen. Bestimmt würde er Meisterschüler werden.
» Was bedrückt dich?«, fragte er.
Sein Scharfblick überraschte sie, und ohne lange zu überlegen, erzählte sie ihm von Rubens Nachlass. Er hörte mit unbewegter Miene zu, doch Ilka hatte den Eindruck, dass es unter der Oberfläche brodelte.
Die Nachricht elektrisierte ihn.
Es versetzte Ilka einen Stich, aber was hatte sie erwartet? Das würde jedem so gehen, der auch nur einen Hauch von künstlerischem Interesse besaß.
» Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll«, schloss sie und hatte das Gefühl, diesen Satz in den vergangenen Tagen hundertmal gesagt zu haben.
Sie konnte Martens Gedanken an seinem Gesicht ablesen, und ihr gefiel nicht, was sie da sah: absolute Fassungslosigkeit.
» Du willst seine Bilder zurückhalten?«, fragte er und schien nur mühsam die Ruhe zu bewahren.
» Vermutlich hat er deshalb seinen Freund eingeschaltet«, sagte Ilka. » Damit das nicht passiert.«
Oder Schlimmeres, dachte sie. Ich hätte die Bilder sonst ja auch vernichten können.
Irgendwie tat ihr der Gedanke gut.
Es war, als könnte sie damit zurückschlagen. Ruben im Nachhinein
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