Der Bilderwächter (German Edition)
treffen.
Bitte sag das Richtige, dachte sie. Bitte! Sag etwas, das mich tröstet und mir zeigt, dass du mich verstehst.
Marten schüttelte den Kopf. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, rieb sich das Kinn.
» Aber das darfst du nicht«, sagte er schließlich und blickte an ihr vorbei. Sein linkes Augenlid zuckte nervös. » Ein Kunstwerk steht über persönlichen Gefühlen. Man darf es nicht danach beurteilen, ob es einem in den Kram passt oder nicht. Die Bilder deines Bruders haben Kunstgeschichte geschrieben.«
Kram? Ilka zuckte zusammen. Martens Worte hatten sie hart getroffen. Fast fühlte sie den Schlag im Gesicht. Unwillkürlich hielt sie sich die Wange.
Aber du weißt, was mir passiert ist, dachte sie. Du weißt es so gut wie alle andern. Und das ist erst ein Teil der Wahrheit.
Hat das denn keine Bedeutung?
Doch sie konnte es nicht aussprechen. Marten war ihr in den ersten Wochen hier beinah schon ein Freund geworden. Seine Parteinahme für Rubens Kunst verletzte sie.
» Versprich es mir«, verlangte er auf einmal.
» Was?«
» Dass du die Bilder deines Bruders nicht der Öffentlichkeit entziehst.«
Ilka konnte es nicht glauben. Marten war ihr plötzlich vollkommen fremd. Das erschreckte sie so sehr, dass sie ihn entgeistert anstarrte.
» Wahrscheinlich würde es mir ja nicht mal gelingen«, sagte sie und erhob sich langsam von ihrem Stuhl.
Auch Marten stand auf. Sie hielt ihn mit einer Handbewegung davon ab, ihr zu folgen.
Sie wollte allein sein. Allein mit sich selbst und ihren Gedanken, einer Leinwand und Farben. Wollte sich die Enttäuschung von der Seele malen und die Angst vor etwas Unaussprechlichem, das sie unerbittlich auf sich zukommen fühlte.
*
Die Dunkelheit der Nacht hing noch in den Zimmern fest. Der Winter kam Emilia immer vor wie ein Tunnel, durch den sie sich mühsam hindurchkämpfen musste, wenn sie nicht in einer tiefen Depression versinken wollte.
Von Jahr zu Jahr wurde der Tunnel länger. Finsterer.
Und stiller.
Sie war heute später aufgestanden als sonst, hatte das gemeinsame Frühstück mit Hortense versäumt. Wenn sie schon einmal richtig schlafen konnte, dann nutzte sie das auch gern aus.
Oft war sie nämlich bereits mitten in der Nacht hellwach und hielt sich mit Lesen davon ab, zu früh aufzustehen und das geordnete Leben im Haus durcheinanderzubringen. Und dann nickte sie tagsüber bei jeder Gelegenheit ein.
Sehr zum Ärger von Hortense, die sich davon persönlich angegriffen zu fühlen schien.
Es machte Emilia tatsächlich keine Freude, ihrer Schwester zuzuhören, die ihre scharfe Zunge an allem und jedem wetzte und an nichts und niemandem ein gutes Haar ließ. Da war es am besten, die Ohren runterzuklappen und die Augen zuzumachen.
Bevor sie hinunterging, schaute sie noch einmal aus dem Fenster. Gewiss war der Mann bereits in Rubens Haus verschwunden und begrapschte mit seinen Fingern die Bilder, die bis vor Kurzem nicht nur vor Berührungen, sondern sogar vor neugierigen Blicken sicher gewesen waren.
Seufzend verließ Emilia ihr Zimmer und stieg vorsichtig die Treppe hinunter, wobei sie flach zu atmen versuchte, damit der Geruch der nelkengespickten Apfelsinen ihr nicht den Kopf vernebelte.
» Ach, kommst du auch schon?« Hortense ließ die Zeitung sinken.
Hatte sie immer schon eine so griesgrämige Miene gehabt? Waren ihre Falten schon immer wie in Stein gemeißelt gewesen?
Oder fiel es Emilia heute nur besonders auf?
An Hortense war alles irgendwie zu groß geraten. Die Hände, der Hals, die Nase. Und zu dünn. Sie sah aus wie eine dieser hageren Vogelscheuchen, die früher auf den Feldern gestanden hatten.
Nur dass sie besser angezogen war.
» Dieser Gestank bringt mich um«, sagte Emilia, als sie sich am Frühstückstisch niederließ. » Du weißt doch, dass ich Gewürznelken verabscheue.«
Hortense überhörte das, wie sie alles ausblendete, was ihr missfiel. Sie war wieder hinter der Zeitung verschwunden.
Schade, dass sie nicht in der Zeitung verschwinden kann, dachte Emilia. Dann würde ich die blitzschnell zusammenfalten und, zusammen mit den gespickten Apfelsinen und dem ganzen Weihnachtsfirlefanz, in einen Schrank stopfen und vergessen.
Kichernd griff sie nach einem Milchbrötchen. Sie wich Hortenses missbilligendem Blick aus, als sie es mit Schimmelkäse und Honig bestrich. Irgendwann, dachte sie und konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern, irgendwann schnapp ich mir ein Messer und bring sie um.
Honig tropfte auf ihr
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