Der Bilderwächter (German Edition)
unaufgeräumte Büro bereits vertraut. Bücherstapel bedeckten jede freie Fläche des Fußbodens. Aus vielen schauten abgerissene Papierschnipsel hervor, achtlos als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt.
Ilka fragte sich, ob sie je so arbeiten könnte, tausend Sachen im Kopf behalten und das alles mit scheinbar so leichter Hand.
Aber sie wusste ja nicht mal, in welche Richtung sie das Studium überhaupt führen würde.
» Gern. Nächste Woche? Sagen wir … um neunzehn Uhr?«
Birgit Deckstein lächelte Ilka zu und beugte sich wieder über ihren Kalender.
Ilka hatte eigentlich nicht das Bedürfnis, mit ihr über die Probleme zu sprechen, die sie belasteten, doch sie hatte keine Wahl, wusste nicht mehr vor und nicht zurück. Die Dozentin war neutral. Wenn ihr jemand einen unvoreingenommenen Rat geben konnte, dann sie.
Als das Telefongespräch beendet war, wandte die Professorin sich Ilka mit einem strahlenden Lächeln zu.
» Was führt Sie zu mir?«
Ilka redete nicht lange um die Sache herum. Sie berichtete in knappen Sätzen von Rubens Nachlass, von Thorsten Uhland und den Entscheidungen, die auf sie zukamen.
Birgit Deckstein hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann lehnte sie sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und sah Ilka nachdenklich an.
» Und nun wollen Sie meinen Rat?«
Ilka nickte. Sie war erschöpft. Der Tag saß ihr in den Knochen, und über Ruben zu sprechen, machte sie jedes Mal fertig. Sie blickte zum Fenster. Draußen war es so dunkel, als wäre die Nacht bereits hereingebrochen.
Nichts in diesem Zimmer hatte etwas Privates. Nichts ließ darauf schließen, wer diese Frau war, für die ihre Arbeit wesentlich mehr zu sein schien als ein Job. Höchstens das kleine Adventsgesteck auf ihrem Schreibtisch, das aussah, als sei es selbstgemacht.
Und das kreative Chaos.
Je länger die Professorin schwieg, desto sicherer war Ilka, dass die Antwort ihr nicht gefallen würde. Sie hatte Lust, aufzustehen und wieder zu gehen, doch sie war so müde, dass sie sich nicht dazu aufraffen konnte.
» Ich verstehe«, sagte Birgit Deckstein. Und verfiel wieder in Schweigen.
Wie konnte ich erwarten, dass es eine einfache Antwort geben könnte, dachte Ilka. Dass es überhaupt eine Antwort gibt. Wie konnte ich ihr zumuten, nach dieser Antwort zu suchen.
» Es tut mir leid«, sagte sie. » Ich hätte Sie mit meinem Problem nicht behelligen dürfen.«
» Oh. Nein.« Die Professorin schüttelte den Kopf. » Sie dürfen sich immer an mich wenden, wenn Sie Hilfe brauchen. Jederzeit.«
Trotzdem. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen.
Mittlerweile wusste jeder an der Kunstakademie, dass Ilka die Schwester des berühmten Ruben Helmbach war. Und außerdem sein Entführungsopfer. Wie sollte ihr da irgendjemand unbefangen gegenübertreten?
Oder ihr in dieser Sache raten?
» Kunst ist nicht privat, Ilka. Sie gehört allen Menschen.« Birgit Deckstein beugte sich über den Schreibtisch und sah Ilka in die Augen. » So sehr ich Ihr Dilemma auch nachvollziehen kann – die Bilder eines Malers gehören der ganzen Welt.«
Dilemma, dachte Ilka, als sie aufstand und zur Tür ging. Das Wort passte nicht zu dem Schmerz, der plötzlich wie aus dem Nichts wieder über sie herfiel.
» Ilka. Bleiben Sie. Bitte.«
» Entschuldigung«, flüsterte Ilka.
Und drückte die Türklinke nach unten.
Sie fühlte sich so matt und kraftlos, dass sie sich wie eine alte Frau über die Flure schleppte.
Birgit Deckstein hatte recht.
Die bittere Erkenntnis rumorte in ihrem Magen, und Ilka suchte den Waschraum auf, wo sie sich im flackernden Lichtschein einer defekten Lampe kaltes Wasser über die Handgelenke laufen ließ.
Der Kälteschock ließ sie zusammenzucken. Sie sah sich im Spiegel an und erschrak vor ihrer Blässe. Sie musste eine Entscheidung treffen.
*
Nach dem Fenchelsalat servierte Dora Morgenroth Kartoffelplätzchen, Sahnemeerrettich und Forellen, die ihr Mann selbst geräuchert hatte. Dazu gab es schwarzen Tee und einige Scheiben frisch gebackenes Walnussbrot.
Sie hatte den Tisch mit einem kleinen Strauß duftender Fresien verziert, den sie mit ein wenig Tannengrün in so etwas wie einen dezenten Weihnachtsschmuck verwandelt hatte.
Sehr zum Gefallen von Hortense Ritter, die sie mit einem herablassenden, aber andeutungsweise freundlichen Lächeln belohnte.
Emilia Ritter schenkte sich Tee ein. Ihre künstlich gemalten Augenbrauen verliefen in einem spitzen Winkel nach oben und verliehen ihrem Gesicht immerzu einen
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