Der Bilderwächter (German Edition)
gern gestoppt, aber ich hielt mich zurück.
» Kannst du nicht verstehen, dass mir auch mal die Kraft ausgeht?«, fragte er leise.
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
» Dass mich die Angst fertigmacht, Ilka zu verlieren?«
» Aber dann solltest du doch gerade …«
» Nein.« Er hob den Kopf und schaute mich an. » Ich kann Ilka nur halten, wenn ich sie loslasse. Immer und immer wieder, Jette. Tag für Tag. Und Nacht für Nacht für Nacht.«
Sein trauriges Lächeln stach mir ins Herz. Ich senkte den Blick, damit er die Tränen in meinen Augen nicht sah.
» Jedes Mal, wenn ich sie umarme, bin ich darauf gefasst, dass sie mich wegstößt wie einen Vergewaltiger. Und immer, wenn sie das nicht tut, bin ich so unaussprechlich glücklich, dass ich heulen könnte.«
Er schob das Handy beiseite, als wäre ihm wohler, wenn es nicht in seiner Reichweite lag. Ich nahm seine Hand und hielt sie fest.
So schlimm war es?
Immer noch?
» Nicht, dass …« Seine Stimme wurde heiser. » Ich liebe Ilka mehr als alles auf der Welt, aber ihre Vergangenheit liegt immer mit uns im Bett, verstehst du? Und Ruben belauscht jedes unserer Gespräche. Wir sind umgeben von Ilkas Gespenstern.«
Müde stand er auf, nahm sein Handy und ging langsam zur Tür. Ich wollte ihm folgen, doch er hob den Arm.
» Lass mich, Jette. Ich muss eine Weile allein sein.«
Als ich in meinen Wagen stieg, um nach Köln zu fahren, hörte ich aus seiner Werkstatt das Heulen der Schleifmaschine. Vielleicht, dachte ich, war Arbeit manchmal wirklich die beste Medizin.
*
Weißt du noch, Liebste? Weißt du noch?
All die Stunden, die wir uns füreinander gestohlen haben.
Unser Versteck auf dem Dachboden.
Und niemand hat etwas bemerkt.
Ilka versuchte, Rubens Worte abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Sie malte in einem der Werkräume der Kunstakademie, zusammen mit zwei anderen Studentinnen, die immer wieder zu ihr herüberschielten und vielsagende Blick tauschten.
Vielleicht lag es an den zusammengenähten Lippen des Frauengesichts, an dem Ilka arbeitete. Vielleicht an den Gittern vor den Augen. Vielleicht aber auch einfach an der Verzweiflung, die Ilka kaum verbergen konnte.
Ich bin wie ein offenes Buch, dachte sie und verteilte ein leuchtendes Jawlensky-Grün auf der linken Wange des Porträts.
Ruben hatte ganz anders gemalt.
Ruben!
Ilka ließ alles stehen und liegen, griff nach ihrer Jacke und stürmte hinaus. Ohne einen Blick für ihre Umgebung lief sie in der Kälte umher.
Bis ihr Handy klingelte.
Mit steif gefrorenen Fingern zog sie es aus der Tasche.
» Mike«, sagte sie und weinte und lachte in einem.
Als Bodo Breitner kurz nach vier seinen Arbeitsplatz verließ, war es draußen bereits dunkel.
Nach dem kurzen Ausflug in die Stadt hatte er ohne Unterbrechung durchgearbeitet. Er hatte sich eingeredet, dass er keine weitere Pause benötigte, aber das entsprach nicht der Wahrheit.
Er wollte nicht nach draußen.
Doch jetzt kam er nicht mehr daran vorbei. Er nahm seine Tasche (der Koffer befand sich mitsamt der unterschlagenen Gouachen im Schließfach), zog Jacke und Stiefel an und öffnete die Tür.
Zuerst nur einen Spaltbreit.
Draußen war nichts Ungewöhnliches zu bemerken.
Er aktivierte die Alarmanlage, atmete tief durch, streckte den Rücken und trat aus dem Haus.
Während er den Code in das Tastenschloss der Tür eintippte, gelang es ihm nur mit größter Mühe, Gelassenheit vorzutäuschen. Er zwang sich, in Ruhe die Tasche über die Schulter zu hängen und langsam zum Auto zu gehen. Dabei achtete er darauf, dem Hauptgebäude nicht zu nahe zu kommen.
Bei jedem Schritt erwartete er, von irgendwas getroffen zu werden, einem Eisblock, einem Messer, einem Schuss. Sein bis in die feinste Sehne gespannter Körper wollte losstürmen und sich in Sicherheit bringen. Es kostete Bodo eine fast übermenschliche Anstrengung, sich zurückzuhalten.
Erst als er in seinem Wagen saß, atmete er zitternd aus, und als er am Fuß des Hügels abbog, verlor er endlich die Kontrolle und trat aufs Gaspedal, dass die Reifen durchdrehten.
Während der Fahrt zappte er sich in ein Hörspiel ein, in dem es um Menschen ging, die in Schränken wohnten, weil sie in den Zimmern Blumenbeete angelegt hatten. Er versuchte, sich das vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
Was war mit seiner Fantasie passiert? Es war doch noch gar nicht so lange her, dass er ein Kind gewesen war, fliegende Fische sehen und Bäume singen hören konnte.
Kurz vor dem Autobahnkreuz
Weitere Kostenlose Bücher