Der Bilderwächter (German Edition)
längere Zeit durch ein Tal stiefeln musste, konnte man sich immer damit trösten, dass es irgendwann wieder bergauf gehen würde.
Allmählich war es so weit.
Sie mussten dringend wieder nach oben kommen.
Sie alle.
*
» Er ist nicht da.« Emilia sank mit einem Stöhnen auf ihren Stuhl. Die Nacht war eine einzige Tortur gewesen, und ihr Rücken fühlte sich an, als würde er in der nächsten Sekunde direkt überm Steißbein auseinanderbrechen.
» Wer?«, fragte Hortense, die bereits das erste Brötchen aufgeschnitten hatte und die eine Hälfte dick mit Butter bestrich. Gleich würde sie eine ebenso dicke Schicht Marmelade auftragen.
Sie macht es wie mit ihrem Gesicht, dachte Emilia gehässig. Bald wird sie beim Schminken einen Spachtel benutzen.
» Der Mann«, sagte sie und merkte, wie jedes Wort sie anstrengte.
» Welcher Mann?«, hakte Hortense nach, obwohl sie sofort wusste, wer gemeint war. Emilia erkannte es daran, dass ihre ohnehin schmalen Lippen beinah verschwanden.
Frau Morgenroth schenkte Emilia Kaffee ein und Hortense hielt ihr sogleich die eigene Tasse hin.
Raffgierig, dachte Emilia. Das ist sie immer schon gewesen. Raffgierig und selbstherrlich.
Betörend stieg ihr der Kaffeeduft in die Nase, und sie schloss erwartungsvoll die Augen, bevor sie den ersten Schluck nahm.
» Vielleicht ist er krank.« Marmelade tropfte in Zeitlupe von Hortenses Brötchenhälfte und bildete einen sich stetig vergrößernden roten Klecks auf ihrem Teller. » Die Leute fallen zurzeit ja um wie die Fliegen. Schweinegrippe oder Hühnerpest oder wie das heute heißt.«
Emilia stellte sich vor, dass eine Fliege auf dem kleinen Marmeladensee landete. Würde sie einsinken? Festkleben? Oder einfach davonspazieren, nachdem sie sich satt gefressen hätte?
» Möglich«, sagte sie, noch immer mit ihrem physikalischen Problem beschäftigt.
An diesem Punkt beendeten sie das Gespräch und jede griff nach ihrem Teil der Tageszeitung. Hortense fing mit der ersten Seite an. Sie gab vor, sich für Politik zu interessieren, was Emilia stark bezweifelte, denn Hortense interessierte sich in Wirklichkeit nur für ihre eigenen Angelegenheiten.
Sie selbst las am liebsten die Rubrik Vermischtes, die sie mit Klatsch und Tratsch aus dem Leben der Prominenten versorgte. Ein bescheidener Ersatz für die Zeitschriften, in denen sie beim Frisör so gern blätterte, die sie jedoch niemals kaufen würde, weil sie Sensationsjournalismus nicht unterstützen mochte. Ein Widerspruch, wie sie fand, aber sie war sowieso aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt. Da kam es auf einen mehr oder weniger auch nicht an.
Heute konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie sah Frau Morgenroth zu, die mit ruhigen, unaufdringlichen Handgriffen dafür sorgte, dass das Frühstück reibungslos verlief, immer aufmerksam, immer freundlich.
Wie gut, dass sie bei ihnen war.
Manchmal allerdings störte es Emilia, dass Frau Morgenroth alles mitbekam, was im Haus so passierte. Man wusste nie, wo sie sich gerade aufhielt und ob sie nicht in der Nähe war und unbemerkt jedes Wort mit anhörte.
Obwohl Frau Morgenroth ihr viel lieber war als ihr Mann. Der tauchte urplötzlich im Garten neben einem auf und erschreckte einen zu Tode, indem er mit lauter Stimme einen guten Tag wünschte.
Aber er war nützlich. Kam gut mit den Pflanzen zurecht und arbeitete für zwei.
Im Herbst hackte er Holz für den Winter und stapelte es ordentlich im eigens dafür gebauten Unterstand. Er setzte die Zwiebeln der Frühjahrsblüher und legte Winterquartiere für die Igel an.
Im Winter reparierte er, was im Haus kaputtgegangen war, und schnitt im Januar oder Februar die Bäume. Im Sommer sah man ihn, einen Strohhut auf dem Kopf und die Pfeife im Mund, in den Beeten kramen. Vieles von dem, was auf den Tisch kam, hatte Herr Morgenroth selbst gepflanzt, gewässert und geerntet.
» Sie sind mir ja ein Tausendsassa«, hatte Hortense einmal mit neckischem Augenaufschlag zu ihm gesagt, und Emilia hatte das Wort so komisch gefunden, dass sie in helles Gelächter ausgebrochen war. Herr Morgenroth hatte ihr zugezwinkert, aber Hortense hatte zwei Wochen lang kein Wort mit ihr gewechselt.
Emilia seufzte. Sie hatte kein Auge zugetan. Dabei brauchte sie ihren Schlaf so dringend. Hortense war wieder im Haus herumgegeistert. Treppauf. Treppab. Auf leisen Sohlen, wie sie meinte. Aber Emilia hatte sie gehört.
Was trieb ihre Schwester um? Was machte sie so nervös?
Als hätte sie die Fragen laut gestellt,
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