Der Bilderwächter (German Edition)
ihr zu tun.
» Wie geht es Ihrer Freundin Ilka?«, fragte da plötzlich der Kommissar und sah ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. In diesem Moment wurde Merle bewusst, dass sie sich etwas vormachte.
Was diesem Bodo Breitner zugestoßen war, hatte mit ihr zu tun.
Mit ihr und der gesamten WG .
Und Ilka war das Verbindungsglied.
Sie steckte den Dominostein in den Mund und würgte ihn trocken runter. Alle schauten ihr dabei zu und warteten auf ihre Antwort.
*
Marten Wienand musste erst am Nachmittag in die Kunstakademie. Er hoffte inbrünstig, bis dahin diese elende Übelkeit loszuwerden.
Am Abend zuvor war er in der Eckkneipe versackt. Jeder dort vertrug mehr als er selbst, und am Morgen danach klaubte er nun in seinem schmerzenden Kopf nach Erinnerungen und wünschte, er könnte jeden einzelnen Schluck rückgängig machen.
Wann kapierte er endlich, dass er zu den Menschen gehörte, die auf Alkohol allergisch reagierten?
Als er merkte, dass er nicht zur Ruhe kam, setzte er sich an den Schreibtisch und machte den Laptop an. Er hatte sich in den vergangenen Wochen durch eine Vielzahl von Artikeln über Ruben Helmbach und seine Kunst gewühlt, und er stieß auf immer mehr.
Du hättest einen weniger bekannten Künstler für dein Projekt auswählen sollen, sagte er sich. Damit hättest du dir eine Menge Arbeit erspart.
Doch das hätte ihn nicht befriedigt. Er brauchte die Begeisterung, die ihn so vorantrieb, dass er sich beim Aufwachen bereits auf die Arbeit freute.
Es war wie beim Malen. Ohne Leidenschaft brachte er nichts auf die Leinwand, was einem zweiten Blick standgehalten hätte. Ohne Leidenschaft ließen ihn die Farben kalt und er fand seine Themen nicht.
Rubens Gesicht war ihm von den unzähligen Fotos so vertraut, als hätte er ihn persönlich gekannt. Die Journalisten waren auf ihn abgefahren und hatten ihn zum Star gemacht. Ruben war vieles in einer Person gewesen – Enfant terrible, Provokateur, Magier und Genie.
Die Kunstwelt hatte ihm zu Füßen gelegen.
Es gab zwei Videos, die ihn bei einer Ausstellungseröffnung zeigten. Darauf hielt er eine kurze, nahezu barsche Rede, die eher dazu geeignet war, das Publikum vor den Kopf zu stoßen, als es für ihn einzunehmen. Und dennoch applaudierten die Leute und suchten seine Nähe, um sich darin zu sonnen.
Sein finsteres Gesicht war von einer Attraktivität, die über gutes Aussehen hinausging. Es war die Intensität, die er ausstrahlte. Sie war extrem anziehend und sorgte dafür, dass man den Blick nicht von ihm abwenden konnte.
Marten stand auf und machte sich in der Küche einen Kaffee. Er kehrte mit dem Becher an den Schreibtisch zurück und dachte an das verunglückte Gespräch mit Ilka in der Bibliothek. Es entsetzte ihn immer noch, dass sie auch nur mit dem Gedanken spielte, die Bilder ihres Bruders unter Verschluss zu halten, sie möglicherweise sogar verschwinden zu lassen.
Aber hätte er nicht feinfühliger sein müssen?
In der Sache hatte er recht, nur in der Art, sie zu vertreten, hatte er sich vergaloppiert.
Er überlegte, Ilka anzurufen, doch er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Vielleicht hatte er sie endgültig zurückgestoßen und sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Sein Blick fiel auf das Bild, das er letzte Woche gemalt hatte.
Sie und ich.
Nicht mal Ilka würde sich darauf erkennen, denn er hatte sie gekonnt verfremdet. Wenn man von einem Mädchen besessen war und vermeiden wollte, dass sie es entdeckte, musste man falsche Fährten legen.
Es fiel ihm nicht schwer.
Ilka war geheimnisvoll und hatte so viele Gesichter.
Sein Blick wanderte zu dem Handy, das auf dem Sofa lag. Warum riskierte er es nicht einfach, sie anzurufen?
Weil du alles verlieren kannst, dachte er und wandte sich wieder seinem Laptop zu.
Allmählich verschwand die Übelkeit, und es gelang ihm endlich, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Und eigentlich, dachte er, bin ich ja gar nicht so weit von Ilka entfernt, während ich mich mit ihrem Bruder beschäftige.
Am Rand seines Bewusstseins kratzte eine lästige kleine Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. Sie wollte ihn daran erinnern, dass dieser Bruder seine eigene Schwester entführt und gefangen gehalten hatte. Dass Ruben kriminell gewesen war. Ein Mensch, der nicht zu den grandiosen Bildern gepasst zu haben schien, für die er heute noch verehrt wurde wie ein junger Gott.
Marten brachte die Stimme zum Schweigen, indem er seine Wohnung mit Musik flutete. Dröhnend laut und unausweichlich.
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