Der Bilderwächter (German Edition)
drängten.
Dann war da noch die Sache mit Claudio, die ihr schwer auf der Seele lag. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.
» Hat das mit dem Kommissar zu tun?«, fragte Emilia, und in ihren Augen konnte Merle etwas erkennen, das sie dort nicht vermutet hätte – ein leises Misstrauen, vielleicht sogar so etwas wie Furcht.
» Warum fragst du nicht direkt?«, herrschte Hortense ihre Schwester an.
» Hortense … bitte …«
» Gut, dann tu ich es.« Hortense wandte sich Merle zu. » Was hatten Sie mit der Polizei zu schaffen, mein Kind?«
Ich bin nicht Ihr Kind, hätte Merle gern gesagt, nur um den Abstand wieder herzustellen, den es zwischen ihnen in letzter Zeit kaum noch gegeben hatte. Doch dann überlegte sie, dass die Frage berechtigt war.
Sie erklärte, um was es bei ihren Kontakten mit der Kripo gegangen war, und die Schwestern hörten ihr aufmerksam zu.
» Mein Gott«, sagte Emilia schließlich mitfühlend. » Manche Menschen scheinen das Unglück regelrecht anzuziehen.«
» Emilia!«, wies Hortense sie zurecht.
» Um Himmels willen! Ich habe damit nicht sagen wollen, dass Ihnen … dass Sie … ach, Merle, ich bin eine alte Frau und habe ein loses Mundwerk. Verzeihen Sie mir?«
» Da gibt es nichts zu verzeihen.« Merle schenkte der aufgelösten Emilia einen liebevollen Blick. » Ich hab schon verstanden, wie Sie es gemeint haben.«
» Und es sieht ja auch bloß so aus.« Hortense legte so viel Aufmunterung in ihren Blick, wie sie nur konnte. » Letztlich haben Sie doch immer Glück gehabt, nicht wahr?«
Merle musste an Caro denken und an ihren Mörder. Sie dachte an Ilka, die um ihren toten Vater und die kranke Mutter trauerte und um ihren Bruder, wie er früher einmal gewesen war. An Mina, deren unterschiedliche Persönlichkeiten ums Überleben kämpften. Sie dachte an Claudio und daran, wie er ihre Liebe immer wieder verriet.
War das Glück?
Der alte Kater, der still in irgendeinem Winkel gelegen hatte, kam zu ihr und strich ihr um die Beine. Er schmiegte seinen Kopf in ihre Hand und schnurrte. Dann setzte er sich und sah sie unverwandt an.
Und Merle spürte etwas, das dem, was man Glück nennt, sehr ähnlich war.
Sie erwiderte den Blick des Katers und beschloss, nicht ins Tierheim zurückzufahren, sondern zu Claudio.
*
Das Atelier war überraschend aufgeräumt, und der erste Eindruck, den Bert von Thorsten Uhland gewann, war der eines selbstbewussten, organisierten jungen Mannes, der sein Leben im Griff hatte.
Das konnte täuschen, dessen war er sich bewusst. Er hatte schon mit Menschen zu tun gehabt, die vollkommen ruhig, klar und überlegt argumentiert hatten, während in ihrem Gehirn das Chaos herrschte und sie langsam aber sicher in die Katastrophe trieb.
Deshalb war er vorsichtig und ordnete den ersten Eindruck in die Schublade der später noch zu überprüfenden Empfindungen.
Der Nachlassverwalter war ein Freund Ruben Helmbachs gewesen, doch er war ihm überhaupt nicht ähnlich. Zurückhaltend und abwartend, schien er daran gewöhnt, sich im Hintergrund zu halten. Er beantwortete die Fragen knapp und präzise, ließ keine Feindseligkeit erkennen, wie das bei Befragungen häufig der Fall war, und geriet nicht ins Erzählen, was ebenso oft passierte.
Er hatte sie zu einem runden alten Holztisch geführt, an dem vier moderne Lederstühle mit hohen Rückenlehnen standen, einer weiß, einer grau, einer schwarz, einer rot. Aus einer Thermoskanne schüttete er Tee in Porzellanbecher, die den Köpfen bekannter Künstler nachempfunden waren, denen jedoch die Schädeldecke fehlte.
Bert fühlte sich an Addams Family erinnert. Amüsiert beobachtete er, wie Rick offenbar erhebliche Widerstände überwinden musste, um den ersten Schluck aus dem Kopf von Pablo Picasso zu nehmen, während Thorsten Uhland unbefangen den Kopf von Salvador Dal í an die Lippen hob. Sein eigener Tee dampfte aus dem Schädel von Richard Wagner, und er schmeckte noch frisch, war offenbar eben erst zubereitet worden.
Während Rick die Personalien Thorsten Uhlands aufnahm, schaute Bert sich in dem weitläufigen Atelier um. Zwei lange Tische, auf denen das künstlerische Durcheinander herrschte, das der übrige Raum vermissen ließ – Gefäße unterschiedlichster Größe mit Pinseln in allen Stärken und Formen; eine Schale mit verwitterten Tonscherben; Paletten, auf denen die Farbe eingetrocknet war; Flaschen mit Farbpulver und Flüssigfarben; ein Kinderfahrrad ohne Reifen; ein unfertiges
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