Der Bilderwächter (German Edition)
Sekunde. » Um einundzwanzig Uhr war ich mit Ilka Helmbach in dem Gebäude verabredet, in dem der Nachlass ihres Bruders untergebracht ist. Ihr Freund Mike war auch dabei.«
» Wie lange waren Sie dort?«
» Das Mädchen hat einen Schwächeanfall erlitten, und wir mussten das Treffen abbrechen, bevor es richtig begonnen hatte. Ich schätze, ich bin so gegen einundzwanzig Uhr dreißig wieder in mein Atelier gefahren und habe dann bis weit nach Mitternacht gemalt.«
» Allein?«
Thorsten Uhland lachte auf. » Beim Malen bin ich meistens allein. Es sei denn, ich male nach Modell.« Er kniff die Augen zusammen. » Macht mich das verdächtig?«
» Hätten Sie denn ein Motiv gehabt?«, fragte Rick.
» Nur wenn ich ein Masochist wäre, dem es Freude bereitet, sich selbst zu schaden. Ich gewinne nichts durch Bodos Tod, ganz im Gegenteil.«
» Sie hatten auch keine Auseinandersetzungen?«
» Nicht ein einziges Mal. Es gab keinen Grund dafür.«
Bert und Rick verständigten sich mit einem Blick und erhoben sich von ihren Stühlen. Thorsten Uhland schien erleichtert, sie loszuwerden. Er verabschiedete sich, ohne ihnen die Hand zu reichen.
Bert hatte das Gefühl, nur ein bisschen an der Oberfläche dieses Mannes gekratzt zu haben. Man brauchte in diesem Beruf vor allem Geduld, eine Tugend, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr abhanden kam. Er zog die Schultern zusammen und folgte Rick in den eisgrauen Tag hinaus.
*
Josefine Blatzheim war ganz anders als Lara Engler. Nicht so rund, so kraftvoll und nicht so extravagant. Sie war klein und zierlich und hatte das rotblonde Haar locker im Nacken zusammengebunden. Ein paar dünne Strähnen hatten sich gelöst und wehten jeder ihrer Bewegungen hinterher.
Ilka war überrascht, wie jung die Therapeutin noch war. Sie trug Jeans und einen verwaschenen curryfarbenen Pulli. An einer kurzen Silberkette hing ein haselnussgroßer Bergkristall. Ihre Füße steckten in dicken Wollsocken, die selbst gestrickt aussahen.
Die Praxis war minimalistisch eingerichtet. Es gab keine Pflanzen, keine Bilder, nur die nackten Wände, die in einem zarten Grünton gestrichen waren.
Und eine Hängematte.
Das totale Kontrastprogramm zu Laras Räumen, in denen die Farben nur so glühten. Dennoch fühlte Ilka sich hier gleich wohl.
» Danke, dass ich sofort kommen durfte«, sagte sie. » Vielen, vielen Dank.«
» Ich bin gerade aus dem Urlaub zurück«, erklärte Josefine Blatzheim. » Diese Woche habe ich eigentlich noch frei. Was halten Sie davon, wenn wir uns mit dem Vornamen ansprechen? Ich heiße Josefine.«
» Ilka.«
Josefine lächelte.
» Lara Engler hat mich vor einigen Tagen angerufen und mich darauf vorbereitet, dass Sie sich melden würden. Ich möchte zuallererst, wenn es Ihnen recht ist, Ihre Unterlagen anfordern.«
Ilka nickte. Sie musste gar nicht reden. Es half ihr schon, einfach hier zu sein. Die Verkrampfung, die sie von innen lähmte, lockerte sich bereits.
Aber der Schmerz darunter war auf dem Sprung.
Von ihrem Sessel aus blickte sie durch ein Fenster zur linken in die Krone eines kahlen Baums, auf dessen Ästen und Zweigen gefrorener Schnee lag. Das schmale, lang gestreckte Zimmer ging in einen Wintergarten über, in dem die Hängematte von der Decke baumelte. Dort stand auch Josefines Schreibtisch. Er war aus Glas, und bestimmt spiegelte sich in ihm der Himmel, der heute dunkelgrau war, fast braun.
Der Garten schlief unter einer weißen Decke, über die eine Elster hüpfte.
» Gut«, sagte Josefine, nachdem sie die ersten Notizen gemacht hatte. » Fangen wir an.«
Ilka sehnte sich danach, sich in die Hängematte zu legen, um auf den Schmerz zu warten und sich dann unter seiner Wucht zu einer schützenden Kugel zusammenzurollen.
Wer war diese Frau?
Wurde sie von ihren Freunden Josy genannt? Oder Fine?
Würde sie ihr helfen können?
Konnte das irgendjemand?
» Was hat Sie so in Panik versetzt, Ilka?«
Ein ganzes Leben, dachte Ilka, reicht nicht aus, um diese Frage zu beantworten. Sie lauschte in sich hinein und hörte den Schmerz in ihrem Innern ungeduldig scharren.
*
Halb drei, und Merle hatte sich noch immer nicht getraut, bei Claudio aufzukreuzen. Nach dem Besuch bei den Ritters war sie ins Dolce Vita gegangen und hatte in den dort ausgelegten Illustrierten geblättert. Sie hatte zu viel Kakao getrunken und ständig auf die Uhr geschaut. Je mehr sie um den Mut dafür kämpfte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, desto schneller verflog die Zeit.
Von den
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