Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
führten, fühlte er sich plötzlich nicht mehr so schuldig bei dem Gedanken, den guten Doktor zu wecken.
Klassensadismus.
Spaß .
Er griff nach dem Klopfer und setzte zu einem unanständigenGrinsen an … das verblasste, als die Tür widerstandslos nach innen aufschwang.
»Äh …«, sagte er. »Hallo?«
Er fand die Leiche rasch.
Als ungefähr sein zwanzigstes »Ist jemand zu Hause?« wie ein zögerlicher Geist die Treppe hinaufhallte, erspähte er sie bei einem Seitenblick als abstrakten Eindruck von Form und Farbe durch eine offene Tür des Stockwerks. Durch einen Instinkt, den er weder erwartet hätte noch verstand, ertappte er sich dabei, zu ignorieren, was sich darbot, und sich ein genaueres Hinsehen zu verbieten, erfasst von einer kalten, nach außen hin ruhigen Verzweiflung, diesen Anblick zu leugnen und hinauszuzögern.
Fast ohne mit der Wimper zu zucken, bewegte er sich an der Tür vorbei.
Mit glasigen Augen betrachtete er medizinische Enzyklopädien, schnupperte anerkennend an feinen, organischen Markenlebensmitteln im Kühlschrank und versuchte, sich nicht in die Hose zu scheißen, wann immer er sich selbst in fernen, düsteren Spiegeln erblickte. Diesmal hatte er sogar darauf geachtet, die Eingangstür hinter sich zu schließen.
Der Arzt lebte allein. Ab und an traten Anzeichen einer vergessenen Scheidung und Teilzeitfamilie zutage – eine Tasse mit der Aufschrift Bester Vater der Welt , ein verwaistes Schuhregal in einer Garderobe im oberen Stockwerk, ein Schrank im Flur, auf dessen linker Seite sich Herrenjacken drängten, während die rechte Seite leer stand. Alte Gewohnheiten.
Von Anrichten starrte ihn der Arzt mit weißem Haar, Drahtgestellbrille und ruhigem Lächeln aus Schnappschüssen mit seinen erwachsenen Sprösslingen an; ein unbeholfen wirkender Adeliger zwischen sabbernden Enkelkindern. Alles ach so normal. Alles noch so lebendig.
Als Shaper den Rückweg nach unten antrat, geriet seine Verleugnung ins Wanken. Die Krankheit war im Begriff, sich freizuwinden. Er konnte es fühlen.
Während sich sein Magen zunehmend zusammenkrampfte, verbarg jeder Schatten einen lauernden Mörder, jeder uneinsehbare Winkel ein blutverschmiertes Messer, das nur darauf wartete, zuzustoßen. Er zwang sich, mit festen Schritten zu gehen, die Vorstellung von Gefahr zu verdrängen und der wachsenden Verzerrung seiner Sicht keine Beachtung zu schenken. Über jeden Gedanken, der damit zu tun hatte, was dieser Tod bedeutete, hüpfte er leichtfüßig hinweg.
Und wandte den Blick ab, als er an jener Tür vorbeikam.
Ein Zimmer im hinteren Bereich des Hauses wurde als Büro genutzt, und dort verweilte er. Shaper betrachtete medizinische Urkunden an einer Wand und ihnen gegenüber, wie ein Yin für das Yang, ein Foto des Arztes bei einer aufwendigen Abendveranstaltung, auf dem er unter einem Ballon mit der Aufschrift Alles Gute zum Ruhestand, Opa lächelte. Solche Banalitäten bildeten Rettungsanker für Shapers Aufmerksamkeit, Ablenkungen, auf die er sich gierig stürzte. Neben einer schäbigen Blechbüchse mit einem Cannabisblatt-Aufkleber lag eine antike Pfeife. In einer Ecke entdeckte er ein dickes Bündel Spendenblätter für ein Dutzend wohltätige Zwecke, von Esel in Not bis hin zu Krebsforschung und allem dazwischen. Auf einer Seite bildeten einige bunte Taschenbücher einen farbenfrohen Kontrast zu den überall verstreuten akademischen Gegenständen. Auch die Titel passten nicht ins sonstige Bild: Heile den Geist, so heilst du den Körper. Feinstoffliche Körper und ihre praktische medizinische Bedeutung . Oder das ominöse Aurenema: Ein Leitfaden zur Chakren-Irrigation .
Shaper starrte die Bücher eine lange Weile an.
Hippiescheiß.
Hier?
Ein halb aufgebrauchter Verschreibungsblock strafte die Vorstellung Lügen, Naryshkins Ruhestand hätte seine Tage als Arztbeendet, und in einer kleinen Aktenschublade wies ein Fach die Aufschrift Laufende kostenlose Betreuung auf. Die Akten waren nicht alphabetisch geordnet, und abgesehen von der vordersten, mit »Glass, George« gekennzeichneten kannte Shaper keinen der Namen. Langzeitpatienten, vermutete er, die der Arzt aus Gefälligkeit auch noch im Ruhestand behandelte und mit Verschreibungen versorgte. Shaper holte tief Luft und öffnete Glass’ Akte behutsam mit einem Stift. Ein leichter Schauder kroch ihm über den Rücken.
Leer.
Ihm gingen die Ablenkungen aus.
Das Telefon des Doktors auf dem Schreibtisch sprang ihm ins Auge und verlockte ihn
Weitere Kostenlose Bücher