Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)

während der Arzt dicke Tränen des Grauens wegblinzelte, verstummte das Telefon schließlich.
    Die Pause schien ewig anzudauern.
    Dann erwachte irgendwo in den Tiefen des Hauses ein Anrufbeantworter zum Leben. Mit einem tiefen, abgehackten Stöhnen lauschte der Arzt seiner eigenen, verzerrten Stimme. Nicht erreichbar , sagte sie. Hinterlassen Sie eine Nachricht , sagte sie. Ein Piepton ertränkte sein Elend.
    »Äh … ja, hallo«, meldete sich eine Stimme mit einem leichten Knistern. »Dr. Naryshkin? Sind Sie da? Ich … Wahrscheinlich schlafen Sie gerade, nicht wahr? Tut mir leid.«
    Die Stimme hüstelte verlegen. Der Mörder legte den Kopf in die andere Richtung schief. Die feuchten Augen wanderten hinter den glänzenden blauen Schlitzen zur Seite. Erneut versuchte der Arzt, zu brüllen, zu schreien, zu heulen, als könne er sein Grauen irgendwie durch das elektrische Herz der fernen Maschine übertragen.
    Doch es war nutzlos, sinnlos, und bald schluchzte er stattdessen, gurgelte schicksalsergeben und schnaubte durch geblähte Nasenflügel.
    »Na schön, hören Sie«, fuhr die Stimme über den Anrufbeantworter fort. »Mein Name ist Dan Shaper. Ich wollte mit Ihnen reden, und zwar über einen … na ja, ich glaube, einen Ihrer Patienten. Einen Burschen namens George Glass. Wissen Sie, ich sollte einen Auftrag für ihn übernehmen, und das kann ich nicht, deshalb … Ich wollte … Ich weiß auch nicht … Ich schätze, ich wollte sicherstellen, dass jemand nach ihm sieht.« Ein weiteres Hüsteln. »Ich meine … Ich weiß nicht, ob er … ganz bei sich ist … ob er vielleicht einen Schlaganfall hatte oder so. Tatsache ist, ich denke, jemand sollte ihn sich ansehen, verstehen Sie? Erwird von einigen üblen Scherzbolden ausgebeutet … es ist offensichtlich, dass er Hil…«
    Die Stimme verstummte. Jedes Wort wurde von tiefer, unüberhörbarer Besorgnis begleitet.
    Der Arzt beobachtete, wie sich die über ihm schwebende, durch einen Schleier gequälter Tränen verschwommene Maske weiter in die Richtung des Geräuschs drehte, als könne der Mörder den Anrufbeantworter irgendwie durch die Wände hindurch sehen oder gar den Sprecher selbst erblicken.
    »Wissen Sie was, scheiß drauf«, brummte die Stimme, die sich plötzlich entschlossener anhörte. »Ich finde keine Ruhe, bis ich mit Ihnen gesprochen habe. Jemand muss ihm helfen – Glass, meine ich –, und … ich kann es nicht tun. Ich komme vorbei, Doktor, tut mir leid. Wir sehen uns gleich, ja?«
    Klick .
    Die Augen des Arztes weiteten sich.
    Ein grausamer Anflug von Hoffnung überkam ihn, ein ersticktes Schluchzen unter der erdrückenden Hand. Über ihm schnalzte der fast vergessene, vom strahlenden Gleißen vergeblicher Hoffnung in den Schatten gedrängte Killer feucht mit der Zunge, eine theatralisch nachdenkliche Geste.
    Dann nickte das groteske Gesicht.
    Die Maske senkte sich näher. Die funkelnden Augen in den schattigen, saphirblauen Höhlen füllten die Welt des Arztes aus.
    »Yam« , flüsterte der Mörder.
    Dann schnitt er weiter – nur ein wenig schneller als zuvor.

Kapitel 9
    Das Naryshkin-Anwesen präsentierte sich nur geringfügig weniger prunkvoll als Glass’ vor Fischen strotzendes Heim. Shaper betrachtete es mit einem mürrischen Blick und mutmaßte, dass es wohl aus einem Vorort der Wohlhabenden in den Pendlergürtel transplantiert worden sein musste.
    Er hatte die gesamte Fahrt damit verbracht, seine Entscheidung zu überdenken, hierherzukommen.
    Habe ich wirklich vor, einen Arzt um halb eins morgens zu stören, nur um ein paar abstrakte Fragen zu stellen? , hatte er sich gequält.
    Zum Beispiel: Wieso glaubt ein greiser Kauz, er sei dreitausend Jahre alt? Wieso kann er sich nicht daran erinnern, welchen verbrecherischen Schabernack er begangen hat? Wie gerät eine derart sozial zerbrechliche Person mit mehr Geld als Verbindung zur Realität an eine Gruppe von New-Age-Fanatikern und ihren Seelenrettungsquatsch?
    Und vor allem: Wie zum Geier kann ich, Dan Shaper, ein Problemlöser der Unterwelt mit entschiedener Gleichgültigkeit gegenüber konventionellen Moralvorstellungen und dringendem Bedarf an einem Entgiftungsurlaub, damit aufhören, mich verantwortlich für das verfluchte Wohlergehen des besagten greisen Kauzes zu fühlen?
    Als er den Jaguar in der Auffahrt und den Zierengel aus Bronze an der Tür anstarrte und zu dem Schluss gelangte, dass es sich um eines jener Häuser handelte, die einen Namen statt einer Nummer