Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
vielleicht etwas noch Seltsameres. Etwas, das Shaper einer willkürlichen Fluktuation in seinem von Chemikalien stimulierten Gehirn zuschrieb, ein vormittäglicher Hinweis darauf, dass die Wirkung der Drogen bereits nachließ. Etwas, das ihm Mary in einem Konfettiregen unter Horngeschmetter präsentierte. Er fand, dass sie merkwürdigerweise erleichtert wirkte.
Da er nie mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, wollte er seine Beobachtung gerade hervorsprudeln, als eine mit Schürze bekleidete Küchenhilfe mit frischem Tee und einer ZusatzportionToast auftauchte. Die Störung kam so unverhohlen und unerwartet, dass Shaper verdutzt wie ein gestrandeter Fisch dreinschaute.
Seit wann gab es bei Tony Krampfhand kostenlosen Nachschub?
Als er seine Verblüffung weggesteckt hatte, hatte sich Marys Miene auf einen griesgrämigen, defensiv-finsteren Blick eingependelt, und der Moment war verstrichen. Shaper spielte mit einer matschigen Fritte und gab in Gedanken ein Pfff von sich. Drauf geschissen .
»Glass glaubt, dass es ein Mörder auf ihn abgesehen hat«, sagte Shaper. »Er will, dass ich herausfinde, wer es ist.«
Er schaute auf, rechnete mit Bestürzung und Besorgnis – und ja, er bekam beides und sah, dass ihr »Was? Das ist ja schrecklich!« auf der Zunge lag. Dahinter gingen Empörung und Zweifel in Stellung.
Aber …
»Und jetzt wurde Dr. Naryshkin ermordet«, fügte er hinzu, konzentrierte die Sinne und beobachtete sie so eingehend, dass seine Augen schmerzten. »Haben Sie das gewusst?«
Aber …
Die Form ihrer Augenbrauen. Ihre Mundwinkel. Der schleichende, sich kräuselnde chemische Schleier von Falschheit und Lügen, der sie schimmernd umgab …
Nicht real, nicht real, nicht real …
Und woran es auch liegen mochte, auf welchem Weg auch immer es ihm sein benebelter Abklatsch von einem Gehirn mitteilte, er wusste es.
Sie ist nicht überrascht.
»N-nein«, sagte sie. »Nein, das wusste ich nicht.« Nervöse Zuckungen schlichen sich in ihre verhärtete, finstere Miene. »Er ist tot? Wirklich? «
Shaper nippte an dem frischen Tee. »Sie sind verdammt gut«, befand er.
»Wie bitte?«
»Im Lügen.«
Die Frau dachte ganze zwei Sekunden lang nach, bevor sie vom Stuhl aufsprang. Ihre Augen sprühten Blitze, der Stuhl schabte über den Boden, und sie wandte sich ab, um davonzustapfen. Obdachlosenköpfe drehten sich ihr zu. Aber durch all das, durch die Entrüstung und den Zorn, durch die Verärgerung und den verletzten Stolz flackerte dieselbe verhaltene, schmerzliche Freude auf. Das perverse Vergnügen daran, aufgedeckt worden zu sein.
Nicht dass es gereicht hätte, um ihren dramatischen Abgang zu verhindern. Shaper war gezwungen, beschwichtigend zu gestikulieren, panisch zurückzurudern und Quatsch von sich zu geben, um ihren Seifenopernauftritt zu bremsen. »Warten Sie, warten Sie, warten Sie!«, rief er. »Einen Moment! Ich beschuldige Sie ja nicht des …«
Des was? Des Mordes?
»Ich werfe Ihnen gar nichts vor. In Ordnung? Beruhigen Sie sich, Schätzchen.«
Unsicher verharrte sie.
»Ich sage nur, dass ich vermute, Sie wissen mehr, als Sie zugeben. Aber das macht nichts, kein Problem – ist einfach so. Es ist nur … es ist wirklich beeindruckend. Bei Ihnen wirkt es völlig mühelos.«
Sie traf eine frostige Entscheidung – er konnte es hinter ihren Augen beinahe sehen –, verwarf den Gesichtsausdruck eines in die Enge getriebenen Tieres und sank zurück auf den Stuhl. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
»Tut mir leid«, sagte er. »Okay? Es tut mir leid. Vielleicht irre ich mich ja auch …«
»Tun Sie.«
»Gut. Und ich finde die Dinge auch so heraus, also spielt es keine große Rolle. Ich bin nur … neugierig. Sie sind ein Naturtalent, und ich frage mich, wieso. Wie sind Sie dazu geworden?«
»Wozu?«
»Zu einer Blenderin.«
Eine Sekunde lang dachte er, sie würde auf der Stelle zusammenbrechen. Sie schien am Rand eines tiefen Abgrunds zu schwanken, gebannt von der Aussicht auf eine Verbindung, aber verängstigt davor, den Schritt zu wagen.
Letztlich behielt ihr innerer Hippie die Oberhand. Das Lächeln flammte auf wie eine Glühbirne.
»Also, ich weiß ja nicht, was Sie … was Sie glauben, über mich aussagen zu können, aber ich habe eine sehr komplizierte Energie. Das sagt jeder.«
Shaper erschlaffte auf seinem Sitz.
»Die letzten drei Glieder des Ashtanga können eine Menge … widersprüchlicher Schwingungen erzeugen. Es ist wie eine Interferenz und
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