Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
alles in Ordnung sei. Schließlich spürte er sie an einem kleinen Tisch im Wohnschlafzimmer auf, wo sie an einem frischen Kaffee nippte. Er warf ihr ein hoffnungsvolles Grinsen zu.
»Dann mal raus mit dir«, sagte sie.
Er trat unbeholfen von einem Bein aufs andere. »H-hör mal …wegen vorhin. Ich wollte damit nicht andeuten, dass … dass ich dich nicht wiedersehen …«
»Verpiss dich einfach, Dan, ja? Für Rosen und Pralinen ist es ein wenig spät.«
»Aber …« Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, Frieden zu schließen. »Aber du warst noch nicht fertig, mir von …« – er deutete auf den Weihrauch auf der Anrichte, auf den Traumfänger am Fenster – »… alldem zu erzählen.«
»Das spielt wohl kaum noch eine Rolle, oder?« Schlagartig wurde sie trübsinnig; launenhaft von den Nachwirkungen des Alkohols. »Nicht nach alldem. Nach … Karl. Und Ma.«
Langsam setzte sich Shaper und rechnete halb damit, dass sie seinen Stuhl wegtreten würde. Auf der Sitzfläche lag ein kleiner Haufen Münzen, vermutlich aus ihren Taschen. Behutsam schob er das Geld beiseite und achtete darauf, kein Geräusch zu verursachen. Sie schien zu tief in ihre üble Laune versunken zu sein, um es zu bemerken.
»Heut Nacht sollte eigentlich eine Veranstaltung sein«, murmelte sie. »›Mitternachtsmeditation‹.« Ihre Stimme verfiel in einen dramatischen, selbstironischen Tonfall, wie eine Schauspielerin, die einen miesen Text übt. »Der Höhepunkt der Dunkelheit, wenn die Mauern zwischen den Welten dünn sind.«
»Ja, Glass hat etwas in der Richtung erwähnt …«
»Armer alter Teufel.«
»Was meinst du, wirst du es ihm sagen? Du weißt schon …«
Dass du eine gewaltige Heuchlerin bist.
Sie ließ sich damit Zeit, die Frage zu verarbeiten. Zorn und Traurigkeit vermengten sich und milderten die Verärgerung, die sie über Shaper und sein romantisches Fiasko empfand. Dann nickte sie. »Das Komische ist, es fühlt sich wirklich so an, als sei er …« Sie schwenkte eine Hand, suchte nach dem richtigen Wort.
»Etwas Besonderes.«
»Ja.«
Gute fünf Minuten lang saßen sie schweigend da.
Schließlich rührte sich Mary, tauchte aus dem Morast ihrer Selbstbetrachtungen auf und schien Shaper mit neuen Augen wahrzunehmen. Verärgerung trat in ihre Züge. Er konnte förmlich sehen, wie sich auf ihrer Zunge der Befehl bildete, er solle sich verpissen. Mit wachsender Verzweiflung sah er sich um. Sein Blick fiel auf ein Poster an der Wand.
»Da!«, sagte er und zeigte hin. Das Poster zeigte einen menschlichen Umriss mit einer Reihe bunter Scheiben entlang des Rückgrats. »Chakren, richtig? Jeder hat schon von Chakren gehört. Glass hat neulich während seiner Trance darüber geredet.«
»Und?«
»Und …« Er hob eine Hand und fragte mit der Piepsstimme eines Schuljungen: »Ach bitte, Miss, was ist eigentlich ein Chakra?«
Trotz ihrer üblen Laune konnte Mary ein verhaltenes Grinsen nicht unterdrücken.
Ein Fortschritt .
Langsam und nachdenklich stand sie auf und näherte sich dem Poster. Ihre Stimme schien sich zu verändern, jede Verärgerung verschwand daraus. Eine Predigt, vorgetragen aus weiter Ferne.
»Chakren sind … tja. Auch sie bedeuten Verschiedenes. Der ursprüngliche Grundgedanke stammt aus Indien – wie der Großteil dieses Zeugs. Dazu kommen ein paar Jahrhunderte westlicher Einmischung, durch die alles durcheinandergeraten ist.« Sie berührte das Papier mit dem Finger und fuhr die bunten Scheiben nach. »Es gibt viele verschiedene Interpretationsmöglichkeiten.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel … oh …« Sie seufzte und zögerte gespielt. »Beim Qi Gong werden sie als Kreislauf betrachtet, der geistige Energie pumpt. Dasselbe gilt für Reiki. Beim Bönpo sind sie eher wie … Filter oder so etwas wie Linsen, die verändern, wie man Dinge wahrnimmt. Je nachdem, auf welches Chakra man sich konzentriert, erlebt man die Realität unterschiedlich.«
Shaper spürte ein Kribbeln im Nacken. »Warum sollte man das wollen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das Ziel ist bei allen Versionen dasselbe: das Erreichen göttlicher Glückseligkeit.«
»Ist das alles?«
Sie ignorierte ihn und strich weiter sanft über die bunten Scheiben.
»Beim tantrischen Yoga sind Chakren wie … Manifestationen. Orte, an denen all die verschiedenen Schichten … des Geistes und des eigenen Ichs … zusammenkommen. Jeder hat ein gewisses Maß an Urkraft – Kundalini. Sie ruht am unteren Ende
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