Der blaue Express
Was hat er damit gemeint?»
«Ich weiß es nicht», sagte Ruth Kettering wieder.
Van Aldin setzte sich. Sein Mund wurde zu einem grimmigen Strich.
«Pass mal auf, Ruth. Ich werde da nicht mit geschlossenen Augen reintappen. Ich bin überhaupt nicht sicher, ob dein Mann nicht doch Ärger machen will. Also, eigentlich kann er das nicht. Ich habe die Möglichkeiten, ihn zum Schweigen zu bringen, so dass er endgültig den Mund hält, aber ich muss wissen, ob es nötig ist, diese Möglichkeiten einzusetzen. Was meint er damit, dass du deine eigenen Freunde hast?»
Mrs Kettering zuckte mit den Schultern.
«Ich habe viele Freunde», sagte sie unsicher. «Ich weiß wirklich nicht, was er meint.»
«Weißt du doch», sagte Van Aldin.
Nun sprach er wie er mit einem geschäftlichen Gegner.
«Ich will die Frage deutlicher stellen. Wer ist der Mann?»
«Welcher Mann?»
«Der Mann. Darauf will Derek doch hinaus. Irgendein besonderer Mann, mit dem du befreundet bist. Mach dir keine Sorgen, Liebes, ich weiß, es ist nichts daran, aber wir müssen alles so betrachten, wie es vor Gericht aussehen wird. Die können alles gründlich verdrehen, weißt du. Ich will wissen, wer der Mann ist und wie weit deine Freundschaft mit ihm geht.»
Ruth gab keine Antwort. Ihre Finger verflochten sich in nervöser Anspannung.
«Komm schon, Kleines», sagte Van Aldin sanfter. «Hab keine Angst vor deinem alten Vater. Ich bin doch nie so streng gewesen, oder, nicht mal damals in Paris? – Bei Gott!»
Er hielt inne, wie vom Donner gerührt.
«Der war das also», murmelte er vor sich hin. «Ich wusste doch, ich kenne das Gesicht.»
«Wovon redest du, Dad? Ich verstehe dich nicht.»
Der Millionär ging zu ihr und hielt sie fest am Handgelenk.
«Also, Ruth, hast du diesen Kerl wieder getroffen?»
«Welchen Kerl?»
«Den, dessentwegen wir vor Jahren diesen Krach hatten. Du weißt sehr gut, wen ich meine.»
«Du meinst – », sie zögerte – «du meinst den Comte de la Roche?»
«Comte de la Roche!», schnaubte Van Aldin. «Ich habe dir damals schon gesagt, dass der nichts als ein Schwindler ist. Du hattest dich viel zu weit mit ihm eingelassen, aber ich habe dich aus seinen Klauen herausgeholt.»
«Ja, hast du», sagte Ruth bitter. «Und ich habe Derek Kettering geheiratet.»
«Das hast du gewollt», sagte der Millionär scharf.
Sie zuckte mit den Schultern.
«Und jetzt», sagte Van Aldin langsam, «triffst du dich wieder mit ihm – nach allem, was ich dir gesagt habe. Er ist heute in diesem Haus gewesen. Ich habe ihn draußen gesehen und konnte ihn nicht sofort einsortieren.»
Ruth Kettering hatte ihre Beherrschung wiedergefunden.
«Eins will ich dir sagen, Dad; du liegst falsch, was Armand angeht – den Comte de la Roche, meine ich. Ja, ich weiß, es hat in seiner Jugend ein paar bedauerliche Vorfälle gegeben – er hat mir davon erzählt; aber er hat mich immer geliebt. Es hat ihm das Herz gebrochen, als du uns damals in Paris getrennt hast, und jetzt…»
Ihr Vater stieß ein entrüstetes Schnauben aus, das sie unterbrach.
«Du bist ihm also wieder auf den Leim gegangen? Du, meine Tochter! Mein Gott!»
Er hob die Hände über den Kopf.
«Dass Frauen so verfluchte Närrinnen sein können!»
Sechstes Kapitel
Mirelle
D erek Kettering hatte Van Aldins Suite so überstürzt verlassen, dass er mit einer Dame zusammenstieß, die über den Korridor ging. Er bat um Entschuldigung; sie gewährte die Bitte mit einer lächelnden Aufmunterung und ging weiter, hinterließ ihm den angenehmen Eindruck einer ausgeglichenen Persönlichkeit und sehr hübscher grauer Augen.
Bei aller Nonchalance hatte ihn die Auseinandersetzung mit seinem Schwiegervater ärger mitgenommen, als er zeigen mochte. Er aß allein zu Mittag und begab sich dann, immer noch mit einem etwas finsteren Gesicht, zu der luxuriösen Wohnung, in der die als Mirelle bekannte Dame wohnte. Eine adrette Französin empfing ihn lächelnd. «Treten Sie doch ein, Monsieur. Madame ruht nur ein wenig.» Sie führte ihn in das lange Zimmer mit der orientalischen Einrichtung, das er so gut kannte. Mirelle lag auf dem Diwan, gestützt auf eine unglaubliche Menge von Kissen in verschiedenen Bernsteintönen, die zu ihrem ockerfarbenen Teint ausgezeichnet passten. Die Tänzerin hatte eine wunderbare Figur, und wenn ihr Gesicht unter der gelben Maske tatsächlich ein wenig hager war, hatte es doch einen bizarren und sehr eigenen Charme, und ihre orangeroten Lippen lächelten
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