Der blaue Express
Riviera», sagte er. «Das erste Mal war ich vor zwölf Jahren hier, im Krieg, als ich in Lady Tamplins Lazarett geschickt wurde. Nach dem Schützengraben in Flandern kam es einem vor wie das Paradies.»
«Das kann ich mir vorstellen», sagte Poirot.
«Wie weit entfernt der Krieg heute scheint!», sann Knighton.
Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinanderher.
«Haben Sie etwas auf dem Herzen?», fragte Poirot.
Knighton blickte ihn überrascht an.
«Sie haben ganz Recht», gestand er. «Ich weiß allerdings nicht, woher Sie das wissen.»
«Es war ganz deutlich zu sehen», sagte Poirot trocken.
«Ich wusste nicht, dass ich so leicht zu durchschauen bin.»
«Es gehört zu meinem Geschäft, die Physiognomie zu beobachten», erklärte der kleine Mann würdevoll.
«Ich will es Ihnen sagen, Monsieur Poirot. Haben Sie von dieser Tänzerin gehört – Mirelle?»
«La chère amie von Monsieur Kettering?»
«Ja, die meine ich. Und da Sie die Geschichte kennen, werden Sie verstehen, dass Mr Van Aldin natürlich Vorbehalte ihr gegenüber hat. Sie hat ihm geschrieben und um ein Gespräch gebeten. Er hat mich angewiesen, ihr eine knappe Ablehnung zu schicken, und das habe ich auch getan. Heute Morgen kam sie ins Hotel und hat ihre Karte hochschicken lassen; sie hat mitgeteilt, es sei wichtig und ganz dringend, Mr Van Aldin sofort zu sprechen.»
«Interessant», sagte Poirot.
«Mr Van Aldin war wütend. Er hat mir befohlen, sie abzuweisen. Ich habe mir erlaubt, ihm zu widersprechen. Es schien mir sowohl möglich als auch wahrscheinlich, dass diese Mirelle wertvolle Informationen für uns hat. Wir wissen ja, dass sie im Blauen Express war, und sie kann ja etwas gesehen oder gehört haben, das zu wissen für uns wichtig sein könnte. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Monsieur Poirot?»
«Durchaus», sagte Poirot trocken. «Monsieur Van Aldin hat sich, wenn ich das so sagen darf, äußerst töricht benommen.»
«Ich freue mich, dass Sie die Sache so sehen», sagte der Sekretär. «Nun will ich Ihnen etwas erzählen, Monsieur Poirot. So fest war ich davon überzeugt, dass Van Aldins Haltung falsch war, dass ich gegen seine Weisung hinuntergegangen bin und mit der Dame gesprochen habe.»
«Eh bien?»
«Das Problem war, dass sie darauf bestanden hat, Mr Van Aldin persönlich zu sprechen. Ich habe seine Mitteilung so weit abgemildert, wie ich nur konnte. In Wahrheit – um ganz offen zu sein – habe ich sie in eine andere Form gekleidet. Ich habe ihr gesagt, dass Mr Van Aldin augenblicklich zu beschäftigt sei, um sie zu empfangen, dass sie aber alles, was sie ihm mitzuteilen hat, mir anvertrauen soll. Dazu ließ sie sich jedoch nicht bewegen, und sie ist gegangen, ohne etwas zu sagen. Ich habe aber den deutlichen Eindruck, Monsieur Poirot, dass diese Frau etwas weiß.»
«Eine ernste Angelegenheit», sagte Poirot ruhig. «Wissen Sie, wo sie wohnt?»
«Ja.» Knighton nannte den Namen des Hotels.
«Gut», sagte Poirot, «wir gehen sofort hin.»
Der Sekretär sah zweifelnd drein.
«Und Mr Van Aldin?», fragte er zögernd.
«Van Aldin ist ein Dickschädel», sagte Poirot trocken. «Ich streite nicht mit Dickschädeln. Ich handle einfach. Ich sage ihr, dass Sie von Van Aldin bevollmächtigt sind, für ihn zu handeln, und Sie hüten sich bitte, mir zu widersprechen.»
Knighton blickte noch immer zweifelnd, aber Poirot nahm keine Notiz von seinem Zögern.
Im Hotel sagte man ihnen, Mademoiselle sei anwesend, und Poirot ließ seine und Knightons Karte zu ihr bringen; auf beide schrieb er mit Bleistift «Von Mr Van Aldin».
Von oben kam die Mitteilung, Mademoiselle Mirelle werde sie empfangen.
Als sie in die Räume der Tänzerin geführt worden waren, übernahm Poirot sofort das Kommando.
«Mademoiselle», murmelte er mit einer tiefen Verbeugung, «wir kommen im Auftrag von Monsieur Van Aldin.»
«Ah! Und warum kommt er nicht selbst?»
«Er ist unpässlich», log Poirot, «die typischen Riviera-Halsschmerzen haben ihn erwischt, aber sowohl ich als auch Major Knighton, sein Sekretär, sind bevollmächtigt, für ihn zu handeln. Es sei denn, Mademoiselle zöge es vor, etwa vierzehn Tage zu warten.»
Wenn Poirot von etwas überzeugt war, dann davon, dass bei einem Temperament wie dem von Mirelles das bloße Wort «warten» verpönt war.
«Eh bien, ich will sprechen, Messieurs», rief sie. «Ich war geduldig. Ich habe mich zurückgehalten. Und wozu? Um beleidigt zu werden! Ja, beleidigt! Glaubt er, man
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