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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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übergab er den Besucher an ein weiteres Kind, das Sören durch die geheimen Wege des Viertels lotste. Er hatte längst die Orientierung verloren. Das lag vor allem daran, dass nirgendwo der Stand der Sonne zu sehen war, so eng waren die Wege. Außerdem hatten sie mehrere Haken geschlagen, waren durch zwei Keller hindurch in andere Höfe gekommen, hatten sich auf schmalen Stegen zwischen Häuserwänden entlanggetastet und waren durch mehrere Bretterverschläge hindurchgekrochen. Sören war nur froh, dass man ihm nicht wie beim ersten Mal die Augen verbunden hatte. Allerdings waren sie damals schneller am Ziel gewesen. Schon zweimal war es ihm nun so vorgekommen, als ob sie denselben Hof durchquerten, jedoch in entgegengesetzter Richtung.
    Nachdem sie über eine schmale Galerie in einen kleinen Hof gelangt waren, bedeutete ihm der Junge zu warten. Nach etwa zwei Minuten kam er atemlos zurück. «Luft ist rein», schnaufte er nur, zeigte auf ein hölzernes Gatter, pfiff zweimal durch die Finger und verduftete. Sören schob das Gatter beiseite und betrat einen kleinen gepflasterten Platz, der immerhin so breit war, dass ein paar Sonnenstrahlen den Weg bis auf den Boden fanden. Vor einem morschen Bretterzaun erblickte er Hannes Zinken, der, wie immer eine Pfeife im Mundwinkel, auf einem alten Holzhocker saß und den Besucher mit listigen Augen aufmerksam musterte.
    «Lange nich gesehn.»
    «Stimmt, Hannes», antwortete Sören genauso knapp. «Alles gesund?»
    Der Alte nickte. «Du humpelst.»
    «Nicht der Rede wert», entgegnete Sören. Zinkenwar vor dreißig Jahren bei einer seiner nächtlichen Touren durch ein morsches Dach gestürzt und hatte sich beide Beine gebrochen. Seither war sein rechtes Bein steif.
    «Setz dich doch.» Hannes Zinken deutete auf den leeren Stuhl neben sich. Er trug ein kurzärmliges Unterhemd. Seine Arme waren bis zu den Schultern dicht behaart, und es sah aus, als würde er ein Hemd mit Ärmeln aus grauer Wolle tragen. Der weiße Bart war in den Mundwinkeln vom Tabak gelblich verfärbt. Als er die Pfeife kurz aus dem Mund nahm, konnte man eine breite Zahnlücke erkennen. Die oberen Schneidezähne hatte Zinken eingebüßt, als er sich seiner letzten Festnahme widersetzen wollte. Mit gutem Grund traute sich seither kein Polizist mehr allein in die Gänge dieses Viertels. «Was führt dich zu mir?», fragte er endlich, nachdem Sören neben ihm Platz genommen hatte.
    «Ist ’ne ganze Menge an Fragen.»
    «Dacht ich mir schon, dass du dich nich nur zum Tachsagen herbemühst. Schieß los!»
    «Ilse Mader.»
    «Wat denn? Stiefel-Elli?» Zinken lachte. «Braucht der Herr was Dominantes?»
    «Du weißt genau, was ich meine», sagte Sören, ohne mit der Wimper zu zucken.
    «Klar. Is schon klar. Schätze mal, die is auf und davon, nachdem man ihren Willy abgestochen hat. Entweder sie war’s selber, oder sie hat gesehen, wer’s getan hat, und hat sich aus Schiss verkrochen.»
    «Was weißt du von dem Mord an Willy Mader?»
    «Ist nicht meine Ecke.»
    «Die ‹Möwe› steht keine fünfhundert Meter von hier», sagte Sören.
    «Ich will damit sagen, ich habe mit solchen Dingen nichts zu tun, Herr Advokat! Ist nicht mein Gebiet, nicht meine Sache. Mord ist ’n mieses Ding. Da kann man nich von leben. Hab höchstens mal einem ’nen Scheitel gezogen, wenn der mich am Arsch gehabt hat, aber sonst? Nee, nee. Da leg ich die Ohr’n an.»
    «In Ordnung. Kennst du einen Gustav?»
    «Soll das jetzt ’n Witz sein, oder was? Gustav heißt doch jeder Zweite.»
    «Nu mach ma ’nen Punkt mit den Sprüchen, Hannes! Die Sache ist ernst. Hängt wohlmöglich das Leben eines Unschuldigen dran. Kennst du doch, so eine Geschichte, nicht?» Er blickte Hannes Zinken scharf an. «Ich bin hier nicht zu meinem Vergnügen! Also nochmal: Der Name ist Gustav, ein Kerl groß wie ein Schapp, Glupschaugen, redet nicht viel. War in Begleitung einer fiesen kleinen Type mit heiserer Piepsstimme. Zwei hässliche Narben im Gesicht. Fällt dir wer dazu ein?»
    «Also die Gustavs, die ich kenne, sind alle irgendwie recht bullig. Scheint am Namen zu liegen. Aber mit Glupschaugen? Nee. Keine Ahnung.»
    «Und der Kleine?»
    «Könnte sich um Ratte handeln. Kommt aus Altona. Verdingt sich als Eintreiber. Irgendwann ist er mal an den Falschen geraten, der ihm den Kehlkopf eingeschlagen hat. Seither spricht er, als wenn er Kreide gefressen hätte. Lange nichts gehört von Ratte.» Er blickte Sören neugierig an. «Nun sag mal, warum suchst du

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