Der blaue Tod
Pflaster der Straße, als sich die Tür zum ersten Mal öffnete. Aber es waren nur drei Männer, die das Haus verließen. Nachdem sie die Colonnaden gekreuzt hatten, verschwanden ihre Umrisse schnell im Dämmerlicht. Sören lehnte sich an einen Mauervorsprung. Wenn er lange stand, schmerzte sein Fußgelenk noch immer. Aber was hatte er erwartet? An den Ratschlag von Hugo Simon hatte er sich zumindest nicht gehalten. Ganz im Gegenteil. Die Hasterei durch die Gänge undHöfe war mehr als anstrengend gewesen. Da brauchte er sich nicht zu wundern, wenn sich die Genesung hinauszögerte. Allerdings waren die Geschehnisse des Tages so aufregend gewesen, dass er den Fuß überhaupt nicht gespürt hatte. Erst auf dem Weg über die Gänseweide hierher hatte sich der Schmerz im Gelenk zurückgemeldet, und nun bereute er es, dass er nicht mit dem Wagen gekommen war. Wieder trat eine Gruppe von Musikern auf die Straße. Man verabschiedete sich, und zwei Gestalten huschten an ihm vorbei in Richtung Drehbahn, wo sie wahrscheinlich noch bei Sagebiels oder in einer der anderen zahlreichen Localitäten zwischen Drehbahn und Gänsemarkt einkehren wollten.
Auf einmal herrschte überraschend viel Verkehr auf der Straße. Ungewöhnlich viele Leute, Fußgänger, teils in kleineren und größeren Gruppen, schwenkten in die Große Theaterstraße ein, sodass Sören für einen Moment die Sicht auf den Bühneneingang versperrt wurde. In diesem Moment musste sie aus dem Haus gekommen sein. Zuerst hatte Sören gedacht, er hätte sich getäuscht, aber das Gesicht der jungen Frau gehörte eindeutig Mathilda Eschenbach. Sie stand etwa zwanzig Meter von ihm entfernt und unterhielt sich mit einem groß gewachsenen Mann, der genau wie sie einen Instrumentenkoffer unter dem Arm trug. Beide blickten in Richtung Fehlandstraße. Sie konnten ihn nicht sehen.
Sören wollte schon ihren Namen rufen, da durchzuckte es ihn, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Der Mann hatte kurz den Arm um Fräulein Eschenbachs Schulter gelegt, dann hakte sie sich bei ihm ein, und gemeinsam schritten sie Richtung Colonnaden. Sörens Herz schlug ihm bis zum Hals. Ob aus Überraschung oder Enttäuschung, vermochte er in diesem Moment nicht zu sagen.Für einen Augenblick verharrte er, dann setzte er sich in Bewegung und folgte den beiden.
Wider Erwarten schwenkten die beiden aber nicht in die Colonnaden ein, wo Fräulein Eschenbachs Wohnung lag, sondern hielten auf ein großes Gebäude zu, das an der Ecke zur Fehlandtstraße stand. Erst jetzt bemerkte Sören, dass die Mehrzahl der Passanten auf der Straße es ihnen gleichtat. Einige hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden, man stand vor dem Gebäude und unterhielt sich angeregt, andere gingen geradewegs zum Eingang, der hinter einer seitlich gelegenen Hofeinfahrt lag. Viele der Leute waren einfache Arbeiter, wie Sören aufgrund der Kleidung und der Kopfbedeckungen erkennen konnte. Er überlegte einen Moment, dann siegte die Neugier, und er reihte sich in die kleine Schlange der Wartenden ein, die sich vor dem Eingang gebildet hatte.
«Parteibuch oder Gewerkschaftsausweis!» Der Mann am Eingang sah zwar nicht wie ein Wachposten aus, aber seine Körpersprache ließ keinen Zweifel an seiner Aufgabe aufkommen. Er stellte sich Sören in den Weg und hielt ihn mit einer von Druckerfarbe geschwärzten Hand auf Abstand.
Sören trat automatisch einen Schritt zurück. «Ich wusste nicht …»
«Lass gut sein, Gabriel.» Der Mann hinter Sören signalisierte dem Hünen am Eingang, Sören durchzulassen. «Das ist doch der Bischop! Den kenn ich!»
Der Mann zögerte einen Augenblick und musterte Sören kritisch, gab aber schließlich den Weg frei. Nachdem sie ein mit weißen Kacheln verkleidetes Treppenhaus durchschritten hatten, wandte sich Sören zu dem Mann um, der für ihn gebürgt hatte. «Woher wissen Sie …»
Der Mann lächelte ihn freundlich an. «Du hast meinem Bruder mal aus der Patsche geholfen. Lothar Gering. Erinnerst du dich nicht?»
«Doch, natürlich.» Sören nickte, auch wenn er sich in diesem Moment an keinen Lothar Gering erinnerte. «Vielen Dank nochmals. Ich wusste nicht, dass hier nur Parteimitglieder Zutritt haben.»
«Genossen und Gleichgesinnte», antwortete der Mann. Er blieb Sören gegenüber bei der vertraulichen Anrede. «Bist du wegen Frohme und Stolten hier, oder interessieren dich die neuesten Nachrichten aus Berlin? Dietz hat sich für heute Abend ja auch angekündigt.»
Langsam
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