Der Blaumilchkanal
recht. Hunde sind erstaunlich kluge Geschöpfe. Ein weiser Mann sollte sie nicht verachten, sondern von ihnen lernen.
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EIN HUNDELEBEN ODER BELLEN MACHT FREI
Unsere biblische Tiergeschichte beginnt damit, daß in zwei neu errichtete, nebeneinanderliegende Einfamilienvillen in unserer Nähe zwei Familien einzogen, die des Musiklehrers Samuel Meyer in die eine, die des Privatbeamten Josua Obernik in die andere.
Es war von Anbeginn klar, daß die beiden Familien einander nicht leiden konnten und es nur darauf angelegt hatten, sich gegenseitig die Hölle heißzumachen. Als Ziel schwebte jeder von ihnen die Vertreibung der anderen vor. Zur Erreichung dieses Ziels leerten sie ihre Abfallkübel in des Nachbars Garten, drehten das Radio so laut auf, daß die Fensterscheiben zitterten, setzten seine Fernsehantenne außer Betrieb und taten alles, was man in solchen Fällen sonst noch zu tun pflegt. Angeblich soll Meyer sogar versucht haben, Oberniks Badewanne an die Hochspannungsleitung anzuschließen. Aber selbst wenn das übertrieben ist, gab es keinen Zweifel, daß über kurz oder lang eine der beiden Familien ausziehen müßte. Die Frage war, wer die besseren Nerven hatte. In unserer Straße standen die Wetten 3:1 für Meyer.
Bis hierher ist das eine ganz gewöhnliche Geschichte, wie sie sich in jedem Häuserblock zutragen kann. Ungewöhnlich wurde sie erst, als die Oberniks sich einen Hund zulegten. Er hieß Aristobolus und war von undefinierbarer Rasse, obwohl er angeblich aus einer erstklassigen skandinavischen Zucht stammte. Die Oberniks hüteten ihn wie ihren Augapfel und ließen ihn nur des Nachts ins Freie. Das geschah offenbar aus Furcht vor Aggressionen, was nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Das Bellen des Aristobolus konnte nämlich durchaus einen Nachbarn um den Verstand bringen, vor allem, wenn es sich bei diesem Nachbarn um einen Musiklehrer mit absolutem Gehör handelte.
Aristobolus stimmte sein keifendes, infernalisch durchdringendes Gebell zu den widerwärtigsten Stunden an, um 5.15 Uhr am Morgen, zwischen 14 und 16 Uhr, also zu einer Zeit, da Herr Meyer sein Nachmittagsschläfchen hielt, dann wieder gegen Mitternacht und um 3.30 Uhr. Natürlich bellte er auch zwischendurch, aber die genannten waren seine Hauptbellzeiten. Bei Nacht verlegte er sie in den Garten.
Nach ungefähr einer Woche, während des üblichen Nachmittagskonzerts, trat Frau Meyer vors Haus und rief in Richtung Obernik:
»Sorgen Sie dafür, daß Ihr Hund zu bellen aufhört, sonst kann ich für nichts garantieren. Mein Mann ist fähig, ihn zu erschießen.«
Da man wußte, daß Samuel Meyer eine Jagdflinte besaß, nahm sich Frau Obernik die Warnung zu Herzen und sprach von nun an, sowie Aristobolus zu bellen begann, mit besänftigender Stimme auf ihn ein:
»Ruhig, Aristobolus. Du störst Herrn Meyer. Schäm dich. Hör auf zu bellen. Kusch.«
*
Aristobolus kuschte in keiner Weise. Im Gegenteil, er steigerte sein Gekläff, als wollte er für die Freiheit des Bellens demonstrieren.
Meyer bat seinen Anwalt um Rat. Zu seiner Verbitterung erfuhr er, daß das Halten von Hunden zu den unveräußerlichen Bürgerrechten gehört und daß einem Hund von Gesetzes wegen nicht vorgeschrieben werden kann, wie und wann er zu bellen hat.
So griff Samuel Meyer eines Nachts zum Jagdgewehr und setzte sich in seinen Garten, wo er hinter einem Strauch auf das Erscheinen von Aristobolus wartete. Aristobolus erschien nicht. Er bellte zwar genau zu den gewohnten Stunden (0.00, 3.30, 5.15), aber er bellte im Haus. Von Zeit zu Zeit glaubte Meyer, ihn an der Tür kratzen und jämmerlich winseln zu hören, ohne daß sich die Tür öffnete. Entweder ahnte Obernik etwas von der lauernden Gefahr, oder er tat's aus purer Grausamkeit.
Als sich an diesem rätselhaften Ablauf auch in den folgenden zwei Nächten nichts änderte, entschloß sich Meyer, der das Geheimnis ergründen wollte, zu einem riskanten Schritt. Er schlich in der Dunkelheit zum Obernikschen Schlafzimmer, spähte vorsichtig durchs halb geöffnete Fenster und traute seinen Augen und übrigens auch seinen Ohren nicht: Josua Obernik lag mit gelangweiltem Gesichtsausdruck im Bett und bellte. Neben ihm lag Frau Obernik und sagte von Zeit zu Zeit ohne besondere Anteilnahme:
»Ruhig, Aristobolus. Du mußt Herrn Meyer schlafen lassen. Kusch.«
Samuel Meyer wollte schon schießen, riß sich jedoch zusammen und ging auf die nächste Polizeiwache, wo er dem
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