Der Blaumilchkanal
begeistert, seine Frau besitze ein Buch von mir oder von jemand anderem, und er würde sie anrufen, damit sie es für eine kleine Widmung mitbrächte.
Das schmeichelte mir natürlich, aber ich wehrte bescheiden ab:
»Bedaure lieber Freund«, erklärte ich Stuck höflich, aber bestimmt. »Ich bin inkognito hier, wirklich nur privat. Darum trage ich auch die dunkle Brille. Ich wollte nur Ihren grandiosen Sport erleben und nicht, wie sonst immer, von Autogramm] ägern niedergetrampelt werden und im Blitzlichtfeuer erblinden ...«
Ich bat daher meine Begleiter, mich abzuschirmen und niemanden an mich heranzulassen. Offensichtlich war es aber schon zu spät, denn Zuschauer, Fotografen und Journalisten stürzten sich gerade auf mich. Ich schloß die Augen und ergab mich in mein Schicksal. Der ohrenbetäubende Motorenlärm lieferte die Hintergrundmusik zu meinem Verhängnis ...
*
Als ich nach einem heftigen Rippenstoß die Augen wieder öffnete, befand ich mich in einer höchst peinlichen Situation. Der Pöbel hatte sich nicht auf mich, sondern auf diesen Stuck gestürzt, und ihn, nicht mich, flehte man um Autogramme an. Anscheinend löst der Motorsport bei labilen Charakteren unberechenbare Reaktionen aus. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, mein Inkognito vor Hockenheim jemals so erfolgreich gewahrt zu haben.
Auch als ich meine dunkle Brille abnahm, um es den Massen ein wenig leichter zu machen, mich zu erkennen, interessierten sich die verblendeten Striezelfans nicht für mich. Ich pirschte mich seitlich an den Weltmeister heran, um wenigstens gemeinsam mit ihm fotografiert zu werden, aber sofort verscheuchte mich lautstarker Protest der Sportfotografen. Um meine Ehre zu retten, bat ich den Hilfsmonteur von Stuck um ein Autogramm für meine Kinder, aber er verscheuchte mich.
Es kann nur der Astronautenanzug, der wie eine zweite Haut sitzt, oder der »Krieg-der-Sterne«-Helm sein, der diese unsinnige Vergötterung auslöst. Auch die Fahrer selbst sind sich ihrer charismatischen Aura bewußt. In voller Kriegsmontur, umgeben von einer Schar gut gebauter junger Mädchen in zu kurzen Miniröcken, werfen sie sich unermüdlich in Positur. Die stählerne Brust und der breite Rücken dieser motorisierten Gladiatoren sind, ähnlich wie bei sowjetischen Generälen, bis auf den letzten Millimeter mit Werbelogos dekoriert.
Als mildernder Umstand für dieses infantile Verhalten konnte das Durchschnittsalter der Anbeter gelten. Es lag schätzungsweise bei 17, wobei ich es schon wesentlich angehoben hatte. Haben denn diese Kinder keine Eltern, die auf sie aufpassen?
Ganz selten sah man ein erwachsenes Gesicht. Das waren dann bedauernswerte Autorentner über 35, die in trostlosem Zivil an der Rennstrecke herumlungerten, um wieder einmal dem erotisierenden Aufheulen der Motoren zu lauschen und wieder einmal tief die Abgase einzuatmen.
Aufmerksamkeit schenkte mir nur ein aufgeweckter Junge, der sich freundlich erkundigte, ob denn der Onkel auch mal Rennfahrer gewesen wäre.
»Selbstverständlich«, antwortete ich dem sympathischen Bengel. »Und was für einer.« »Woher kommst du denn?«
»Ich? Aus Disneyland.«
Das erregte zwar ein wenig Interesse im Kindergarten, Autogramme wollte der kleine Analphabet aber trotzdem nicht.
*
Mit 480 Megaherz kündigte jetzt der Lautsprecher den Beginn des Qualifikationsrennens an, bei dem die Startnummern vergeben wurden. Mit übermenschlicher Anstrengung und stählernen Ellenbogen zwängte ich mich durch die begeisterte Menge, möglichst nahe an den Audi V8 Quattro des Weltmeisters Stuck heran. Ich war mit dem Kotflügel auf Tuchfühlung. »Hals und Beinbruch, Champ«, rief ich Striezel zu. »Ich drücke die Daumen.«
»Nützt nichts, mein Freund«, schrie Stuck zurück. »Die Sportkommission hat mir 44 Kilo Zusatzgewicht aufgebrummt.«
Dies war mein erstes Zusammentreffen mit der absoluten Gleichheitsgesellschaft, dem alten Traum aller Sozialisten mit Nummernkonten in der Schweiz. Man klärte mich auf, daß man die strengen Regeln eingeführt habe, um jedem Fahrer die gleiche Chance zu geben. Gleiche PS für alle Autos, gleiche Reifen, gleicher Lärm, gleiche Geschwindigkeit. Falls dann ein Fahrer aus unerfindlichen Gründen das Rennen für sich entscheiden sollte, wird er auf der Stelle bestraft, man legt ihm so viele Bleigewichte ins Auto, daß er sich kaum noch vom Platz rühren kann. Wird er dann letzter, und daraufhin siegt an seiner Stelle die Gerechtigkeit, bekommt
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