Der Blaumilchkanal
was?«
Ich schaltete den Rasierapparat ein. Krkrkrk.
»Tatsächlich«, flüsterte Erna. »Jetzt knackt er. Das ist wirklich unheimlich. Ich habe Angst. Sag ihm, daß er aufhören soll.«
»Hör auf«, sagte Felix mit gepreßter Stimme. »Bitte, hör auf.«
Ich zog den Stecker heraus.
*
Am nächsten Tag traf ich Felix im Stiegenhaus. Er sah angegriffen aus, ging ein wenig unsicher, und unter seinen verquollenen Augen standen dunkle Ringe. Wir plauderten zuerst über das schöne Wetter, dann packte mich Felix plötzlich am Arm und fragte:
»Glauben Sie an übernatürliche Phänomene?«
»Natürlich nicht. Warum?«
»Ich frage nur.«
»Mein Großvater, der ein sehr religiöser Mann war«, sagte ich nachdenklich, »glaubte daran.« »An Geister?«
»Nicht gerade an Geister, eher an Gott. Er war überzeugt, daß tote Gegenstände, es klingt ein wenig lächerlich, entschuldigen Sie, also daß Dinge wie ein Tisch, eine Schreibmaschine, ein Plattenspieler sozusagen ihre eigene Seele haben. Was ist los mit Ihnen, mein Lieber?« »Nichts ... danke ...«
»Mein Großvater schwor, daß sein Plattenspieler ihn haßte. Was sagen Sie zu diesem Unsinn?«
»Er haßte ihn?«
»Das behauptete er. Und eines Nachts fanden wir ihn tot neben dem Gerät liegen. Die Platte lief noch.«
»Entschuldigen Sie«, sagte mein Nachbar. »Mir ist schlecht geworden.«
Ich stützte ihn die Treppe hinauf, sauste in meine Wohnung und stellte den Rasierapparat bereit; Nebenan hörte ich Felix Selig mehrere Gläser Brandy hinabgurgeln, ehe er mit zitternder Hand sein Radio andrehte. »Du haßt mich!« rief er verzweifelt. Seine Stimme, glaubten wir zu hören, kam von unten, wahrscheinlich kniete er.
»Ich weiß, daß du mich haßt. Ich weiß es.«
Krkrkrk. Ich ließ den Kontakt etwa zwei Minuten eingeschaltet, bevor ich ihn abstellte.
»Was haben wir dir getan?« erklang Frau Seligs flehende Stimme. »Haben wir dich schlecht behandelt?«
Krkrkrk.
Jetzt war es soweit. Unser Schlachtplan trat in die entscheidende Phase. Meine Frau ging hinüber zu Seligs.
Schmunzelnd hörte ich mit an, wie die Seligs ihr erzählten, daß ihr Radio übernatürliche Kräfte hätte.
Nach einigem Nachdenken schlug meine Frau vor, das Radio zu exorzieren.
»Geht das?« riefen die zwei Seligs wie aus einem Munde. »Können Sie das? Dann tun Sie's bitte!«
Das Radio wurde wieder aufgedreht. Der große Augenblick war gekommen.
»Götter des Radios«, rief die beste Ehefrau von allen. »Wenn ihr mich hört, dann gebt uns ein Zeichen!«
Rasierapparat anstellen - krkrkrkr.
»Ich danke dir.«
Rasierapparat abstellen.
»Herr«, rief meine Frau, »gib uns ein Zeichen, ob dieses Radio in Betrieb bleiben soll?« Rasierapparat bleibt abgestellt.
»Willst du vielleicht, daß es lauter spielen soll?«
Rasierapparat bleibt abgestellt.
»Dann willst du vielleicht, daß die Seligs ihr Radio überhaupt nicht mehr benützen sollen?« Rasierapparat anstellen.
Rasierapparat anstellen! A-n-s-t-e-1-l-e-n!
Um Himmels willen, warum hört man nichts, kein Knacken, kein Krkrkrk, nichts.
Der Rasierapparat streikte. Irgendein Ding war unterbrochen oder sonst etwas. Jahrelang hatte er tadellos funktioniert, und gerade jetzt...
»Herrgott, hörst du mich nicht?« Meine Frau hob die Stimme. »Ich frage, willst du, daß die Seligs aufhören, diesen entsetzlichen Kasten zu verwenden? Gib uns ein Zeichen! Antworte!« Verzweifelt stieß ich den Apparat in den Kontakt, wieder und wieder, es half nichts. Nicht das leiseste Krkrkrk erklang. Vielleicht haben tote Gegenstände wirklich eine Seele.
»Warum knackst du nicht?« rief meine Frau schon ein wenig schrill. »Gib uns ein Zeichen, du Idiot! Sag den Seligs, daß sie nie wieder Radio spielen sollen! E-p-h-r-a-i-m!«
Jetzt war sie zu weit gegangen. Ich glaubte zu sehen, wie die Seligs sich mit einem vielsagenden Blick verständigten.
*
Am nächsten Tag ließ ich den Rasierapparat reparieren.
»Es war ein Wackelkontakt«, sagte mir der Elektriker. »Ich habe ihn repariert. Jetzt wird es auch in Ihrem Radio keine Störung mehr geben.«
Seither dröhnt das Radio unseres Nachbarn wieder ungestört in jeden Winkel unserer Wohnung. Ob tote Gegenstände eine Seele haben, weiß ich nicht. Aber sie haben bestimmt keinen Humor.
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Für Moses gilt das Sprichwort »Er predigte Wasser und trank Wein«, denn er war unschlagbar im Brechen seines eigenen Gebotes. Kein Satz in seinen fünf Büchern, in dem er
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