Der Blaumilchkanal
Knochen: Wenn ich den Laternenpfahl zwischen uns als erster erreiche, wird der Schekel nicht abgewertet. Eine solche Wette verlangt äußerste Fairneß, denn es ist natürlich verboten, schneller zu gehen. Es ist bestenfalls erlaubt, ganz unauffällig längere Schritte zu machen.
*
Ähnliches spielt sich auf Rädern ab. Ich meine die »Bremsenlose Wette«, die sich unter Profis großer Beliebtheit erfreut. Dabei nähert sich der Fahrer bei roter Ampel langsam der Kreuzung und erreicht sie genau in dem Augenblick, wenn sie auf Grün wechselt. Wenn das gelingt, bleibt er während der nächsten Jahre gesund. Das ist übrigens eine Wette, die besonders starke Nerven voraussetzt. Einmal, ich hatte gerade auf das Glück meiner eigenen Familie gewettet, fuhr ich unaufhaltsam auf die rote Ampel zu, die erst im allerletzten Augenblick grün wurde. Ich müßte mir noch auf der Kreuzung den kalten Schweiß von der Stirne wischen. Aber die Zukunft meiner Kinder war gesichert.
Dann gibt es noch die »Honda-Wette«. Sie besteht, wie der Name andeutet, darin, daß man die Anzahl der Hondas errät, denen man zwischen Tel Aviv und Haifa begegnen wird. Wenn man die Wette ein paar Mal gewonnen hat, muß man allerdings gestehen, daß man das Resultat (843) im voraus weiß. Na und? Dann ist es eben eine kontrollierte Wette. Mal etwas anderes. Dann und wann kann man sich ruhig einen kleinen Schwindel erlauben. Wenn ich zum Beispiel bei rotem Licht vor einer Kreuzung anhalten muß und die Augen schließe, um sie genau beim Wechsel auf Grün zu öffnen, wird mir niemand ein kleines Blinzeln in Richtung Ampel verbieten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich blindlings in Gefahr. Man lebt nur einmal.
Warum erzähle ich das alles? Ich erzähle es zwecks Hebung der öffentlichen Moral.
Ich fuhr nämlich gestern mit dem Aufzug zur 11. Etage unseres stolzen Wolkenkratzers, des Schalom-Turms, und ging eine höchst riskante Wette ein, indem ich den Knopf drückte, meine Augen schloß und die Etagen zu zählen begann. Die Wette ging um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal unseres Landes: »Wenn ich bis zur 11. Etage richtig zähle, werden wir endlich Frieden mit unseren arabischen Nachbarn haben.« Ich zählte mit äußerster Konzentration, und wirklich, als ich die Augen öffnete, hielt der Aufzug in der 11. Etage. Es stimmte auch umgekehrt, als der Aufzug in der 11. Etage hielt, öffnete ich die Augen. Es war ein vollkommen ausgewogenes, ganz und gar überzeugendes Resultat, ein Sieg auf der ganzen Linie.
Künftige Generationen, so hoffe ich, werden zu schätzen wissen, was ich für sie getan habe.
Nach allen mir zugänglichen Quellen ist der jüdische Gott äußerst streng und duldet keinerlei Widerspruch. Nirgendwo läßt sich aber ablesen, daß Er keinen Humor hat.
Für alle, die es trotzdem behaupten, ist die folgende Geschichte der beste Gegenbeweis.
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DIE RACHE DES ZWEITEN GEBOTES
Kürzlich fand ich eine Nachricht von Jossele auf dem Anrufbeantworter vor. Es war ein Anruf aus dem Krankenhaus, er bat mich, ihn zu besuchen. Natürlich machte ich mich sofort auf den Weg.
Ich fand Jossele im Garten des Spitals, bleich und deprimiert in einem Rollstuhl sitzend, ein Bild des Jammers. Und was mich am meisten erschütterte, er hielt ein Gebetbuch in der Hand. »Jossele!« rief ich. »Was ist los mit dir?«
»Nichts Besonderes.« Jossele schüttelte müde den Kopf. »Aber was mir am Montag passiert ist, hat mich davon überzeugt, daß es die Gerechtigkeit Gottes gibt.«
»Bitte, erklär mir das genauer«, sagte ich und setzte mich neben ihn.
Jossele holte tief Atem.
»Mein Wagen war in der Reparatur, und das Schicksal ereilte mich in einem städtischen Autobus«, begann er. »Linie 33. Montag. Rush-hour. Auch im Bus. Mit Händen, Füßen und Ellbogen habe ich mir einen Sitz erkämpft. Kaum saß ich, pflanzte sich irgendein seniler Idiot vor mir auf und begann sich völlig ungefragt zu äußern, es sei ein Skandal und eine Schande, ein gesunder Mensch wie ich bliebe sitzen, und ein alter, kränklicher Mann wie er müsse stehen. Ich reagierte nicht. Die Leute sollten mich für einen Neueinwanderer halten, der die Landessprache noch nicht versteht. Der Alte schimpfte weiter, erging sich in immer heftigeren Mißfallenskundgebungen über die schlechten Manieren im allgemeinen und mich im besonderen. Ich blieb ungerührt. Es fiel mir gar nicht ein, meinen bequemen Sitz gegen einen Stehplatz im
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