Der Blaumilchkanal
stellen.
Kurz bevor ich drauf und dran war, die Flinte ins Korn zu werfen, wandte ich mich mit meiner Frage an eine 9Qjährige Matrone, und sie war es, die mir als einzige eine vernünftige und nicht von spießigem Aberglauben verfälschte Erklärung gab.
Die ehrwürdige Dame schloß die Augen und sagte nach langem Schweigen:
»Freitag, der 13., ist seit Menschengedenken ein beängstigendes Datum, weil an diesem Tag alle Menschen ängstlich sind.«
Dem Allmächtigen hat man schon allerlei angedichtet, keiner hat jedoch behauptet, daß Er abergläubisch wäre. Ganz im Gegenteil, höchstwahrscheinlich kann Er all jene nicht ausstehen, die, statt zu Ihm zu beten, wie es sich gehört, sich dem unberechenbaren Schicksal anvertrauen.
Bei aller Ehrerbietung gestatte ich mir in diesem Fall eine andere Meinung. In meinen Augen ist auch der Aberglaube ein Glaube, auch wenn die betreffenden Gläubigen Fatalisten genannt werden. Auch die Moslems glauben, daß alles von Allah kommt.
Wir Juden hingegen meinen, daß alles Glückssache ist. Wir tun alles Menschenmögliche, um das Glück zu becircen, und manchmal gelingt es. Wenn man Glück hat.
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EIN ABERGLAUBE KOMMT SELTEN ALLEIN
Jetzt, da ich bereits Großvater bin, fühle ich mich verpflichtet, ein Geheimnis zu verraten, das ich bisher hinter dem unauffälligen Benehmen eines nüchternen, brillentragenden Intellektuellen verborgen habe. Ich bin in den letzten Jahren einem Laster verfallen. Ich wette gegen mich selbst. Und zwar wette ich, ob eine bestimmte Angelegenheit gut ausgehen wird oder nicht. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es, sind die ersten Symptome dieser Wettleidenschaft bereits im Alter von neun Jahren bei mir aufgetreten.
Ich benutzte auf dem Schulweg immer den Rand des Gehsteigs und kam dabei auf folgende Wette: Wenn es mir gelingt, mit normal großen Schritten keine Querlinie auf den Randsteinen zu berühren, wird mir der Lehrer nicht draufkommen, daß ich die Hausaufgabe im Rechnen vergessen habe. Um es kurz zu machen, die Querlinien blieben unberührt, und der Lehrer war krank. So fing es an.
Mit 14, also an einem Wendepunkt meiner Biografie, ging ich einmal die vier Stockwerke von unserer Wohnung hinunter und setzte alles auf eine Karte. Wenn die letzte Stufe des Treppenhauses auf eine ungerade Zahl fällt, dann, so wettete ich mit mir, wird das Ziel meiner Sehnsucht, das blonde Mädchen aus der gegenüberliegenden Wäscherei, sich Hals über Kopf in mich verlieben. Bis heute erinnere ich mich an diese letzte Stufe. Sie fiel auf die Zahl 112. Ich habe mich nicht in Jolankas Nähe gewagt, und unsere hoffnungsvolle Liebe endete, vom Treppenhaus zum Tode verurteilt.
Manchmal wurde meine Besessenheit fast unerträglich, besonders während des Zweiten Weltkriegs. Eines regnerischen Nachmittags, am Budapester Donaukai, wehte mir der Sturm den Hut vom Kopf, und während ich losrannte, schloß ich eine Wette ab: Wenn ich den Hut erwische, bevor er ins Wasser fällt, wird Adolf den Krieg verlieren. Ich erwischte den Hut, bevor er ins Wasser fiel. Der Rest ist Geschichte. Das soll nicht heißen, daß ich das Schicksal des Dritten Reichs besiegelt habe. Aber immerhin ...
Nach dem Krieg entspannte sich die Situation ein wenig. Nur noch gelegentlich wettete ich gegen mich, etwa daß ich mit geschlossenen Augen und ohne anzustoßen durch die nächste Türe gelangen müßte, um das Gelingen eines Plans herbeizuführen. Prompt stieß ich mit dem Kopf gegen den Türrahmen, und vorbei war es. Das Schlimmste ist, daß man die Wette nicht wiederholen darf. Wenn man gegen die Wand stößt, hat man verloren. So verlangen es die Regeln.
Ich hatte gehofft, daß ich mir das mit den Jahren abgewöhnen würde, aber jetzt wird es immer schlimmer. Und es tröstet mich nicht, daß auch andere dieser pseudoreligiösen Leidenschaft verfallen sind. Einer meiner Freunde macht lebenswichtige Entscheidungen davon abhängig, ob auf seinem morgendlichen Busticket die Ziffer 7 auftaucht. Ein anderer, im Bankwesen tätig, überläßt Entscheidungen des nächsten Tages dem Druckknopf seines Fernsehapparates: Wenn er ihn abstellen kann, bevor zum Programmabschluß die Nationalhymne beginnt, wird er eine bestimmte Transaktion durchführen. Wenn nicht, dann nicht.
Auch menschliche Elemente schleichen sich in die Wettsysteme ein. Ich mache einen Spaziergang, sehe einen anderen Spaziergänger auf mich zukommen und spüre in allen
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