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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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beiläufige, zufällige, ja fast tagträumerische Weise ab. Wenn ich mir ein Sandwich mache, unter der Dusche stehe, auf einem schmiedeeisernen Stuhl im Food-Court der Lakehurst-Mall auf jemanden warte, der sich verspätet hat, wenn ich im CTA -Zug sitze, in die draußen vorbeiziehende Landschaft starre und mein undeutliches Spiegelbild sehe, das sich im Fenster überlagert – da stellt man plötzlich fest, dass man über Dinge nachdenkt, die am Ende wichtig werden. Beim näheren Hinsehen erweist es sich fast schon als Gegenteil der Bewusstheit. Ich glaube, diese Erfahrung zufälligen Denkens kommt häufig vor, vielleicht nicht überall, aber irgendwie kann man darüber nie mit jemand anders reden, weil am Ende alles so abstrakt und schwer zu erklären ist. Wenn man sich aber zu bewussten Anstrengungen konzentrierten Denkens hinsetzt und die Absicht hat, sich großen Fragen zu widmen à la »Bin ich jetzt gerade glücklich?« oder »Was ist mir letztlich wirklich wichtig und woran glaube ich?« oder – besonders wenn einem eine Autoritätsperson gerade die Daumenschrauben angelegt hat – »Bin ich eigentlich ein wertvoller und nützlicher Mensch oder ein abgestumpfter Nihilist, der sich treiben lässt?« , dann werden die Fragen am Ende oft weniger beantwortet als quasi totgeschlagen, so sehr hat man sie aus allen Richtungen und den verschiedensten Gegenargumenten und Komplikationen der verschiedenen Richtungen bedrängt, sodass sie schlussendlich noch abstrakter und auch bedeutungsloser sind als am Anfang. Auf die Weise erreicht man gar nichts, oder zumindest hab ich das noch nie gehört. Und allem Anschein nach haben Paulus, Martin Luther, die Autoren der Federalist Papers oder gar Präsident Reagan ihrem Leben definitiv nie auf diese Weise eine neue Richtung gegeben – wenn doch, war das eher Zufall.
    Was meinen Vater angeht, muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, ob er über die Richtungen, die er in seinem Leben einschlug, je ernsthaft nachgedacht hat. Ich weiß nicht einmal, ob es in seinem Fall überhaupt ernsthaftes, bewusstes Nachdenken gab. Er könnte wie so viele Männer seiner Generation zu den Menschen gehört haben, bei denen ein Autopilot das Handeln steuert. Seine Einstellung zum Leben war, es gibt gewisse Dinge, die getan werden müssen, und die tut man eben – beispielsweise jeden Tag zur Arbeit gehen. Auch das könnte wieder so ein Element des Generationskonflikts gewesen sein. Ich glaube nicht, dass mein Vater seine Stelle bei der Stadt mochte, aber andererseits bin ich auch nicht sicher, ob er sich je große Fragen stellte à la »Mag ich meine Arbeit? Ist sie wirklich das, womit ich mein Leben verbringen möchte? Bietet sie die Erfüllung, die ich mir erträumt habe, als ich als junger Mann in Korea diente und nachts auf meiner Pritsche in der Kaserne englische Lyrik las?« Er musste eine Familie ernähren, das war seine Arbeit, er stand jeden Morgen auf und erledigte sie, fertig, aus, alles andere wäre bloß sinnlose Selbstbespiegelung gewesen. Das könnte tatsächlich die Gesamtsumme seines lebenslangen Nachdenkens über diese Frage gewesen sein. Im Grunde sagte er »Was soll’s?« zu seinem Los im Leben, aber offenkundig war das ein ganz anderes »Was soll’s?« als das der ziellosen Kaputtniks meiner Generation.
    Meine Mutter dagegen schlug in ihrem Leben auf dramatische Weise eine neue Richtung ein – aber auch bei ihr weiß ich nicht, ob das ein Ergebnis konzentrierten Nachdenkens war. Ich bezweifle es, ehrlich gesagt. So funktionieren diese Dinge einfach nicht. In Wirklichkeit waren die meisten Entscheidungen meiner Mutter gefühlsgesteuert. Und auch das war eine Dynamik, die sie mit ihrer ganzen Generation gemein hatte. Ich glaube, sie redete sich gern ein, die feministische Bewusstseinsbildung, Joyce, die Zweierkiste von Joyce und ihr und die Scheidung wären Folgen bewussten Denkens und einer bewusst geänderten Lebensphilosophie. Aber im Grunde war es emotional. 1971 hatte sie eine Art Nervenzusammenbruch, obwohl das damals noch keiner so nannte. Und sie hätte den Ausdruck »Nervenzusammenbruch« wohl auch vermieden und eher gesagt, es handle sich um eine plötzliche und bewusste Änderung der Richtung und Überzeugung. Und wie soll man bei so etwas schon ernsthaft widersprechen? Wenn ich das damals doch bloß schon verstanden hätte, denn ich weiß, dass ich meine Mutter wegen der Zweierkiste mit Joyce und der Scheidung oft fies und herablassend behandelt habe. Fast als

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