Der bleiche König: Roman (German Edition)
der DePaul zwei neuere Gebäude gab, die sich sehr ähnlich sahen, buchstäblich architektonisch so geplante Spiegelbilder waren, die im Erdgeschoss und – über eine Passerelle ähnlich der unseren hier im RPZ Mittlerer Westen – im zweiten Stock miteinander verbunden waren, und die Fachbereiche Rechnungswesen und Politologie der DePaul lagen in den verschiedenen Gebäuden dieses Zwillingskomplexes, an deren Namen ich mich auf die Schnelle nicht erinnern kann. Also an die Namen der Gebäude. Es war der letzte reguläre Vorlesungstag für Seminare dienstags und donnerstags im Herbstsemester ’78, und wir hatten ein Repetitorium für die Abschlussprüfung in Amerikanischer Verfassungsgeschichte, die aus lauter Essayfragen bestand, und ich weiß noch, dass ich auf dem Weg zu diesem Repetitorium überlegte, nach welchen Wissensgebieten in der Sitzung unbedingt gefragt werden sollte – gar nicht zwingend von mir – von wegen, wie umfassend sie in der Abschlussklausur drankämen. Abgesehen von der Einführung ins Rechnungswesen belegte ich hauptsächlich immer noch Psychologie- und Politologieseminare – Letztere vor allem wegen der Anforderung, ein Hauptfach festlegen zu müssen, um zur Abschlussprüfung zugelassen zu werden –, aber jetzt wollte ich nicht mehr nur durch Bockmist auf den letzten Drücker durchkommen, was die Seminare natürlich viel schwerer und zeitraubender machte. Ich weiß noch, dass es in der DePaul-Version der Amerikanischen Verfassungsgeschichte in erster Linie um die Federalist Papers ging, also um Madison und Konsorten, was ich zwar schon am Lindenhurst belegt hatte, aber davon war praktisch nichts hängen geblieben. Letztlich dachte ich so konzentriert über das Repetitorium und die Abschlussklausur nach, dass ich doch tatsächlich und ohne es zu merken ins falsche Gebäude ging, und zwar im richtigen Seminarraum im zweiten Stock landete, aber eben im falschen Gebäude, und weil dieser Raum das Spiegelbild meines eigentlichen Seminarraums im Nachbargebäude auf der anderen Seite der Passerelle war, fiel mir mein Irrtum nicht gleich auf. Und in diesem Seminarraum fand das Repetitorium für die Abschlussprüfung in Steuerprüfung II statt, ein an der DePaul für seine Schwierigkeit berüchtigtes Seminar, das im Rechnungswesen dem entsprach, was für Naturwissenschaftler im Hauptfach die Organische Chemie war – die letzte Hürde, das Aussiebeseminar, für das diverse Voraussetzungen mitzubringen waren, das nur Prüfungskandidaten des Rechnungswesens und Graduierten offenstand und angeblich von einem der letzten echten Jesuiten an der DePaul gelehrt wurde, der noch in der offiziellen schwarz-weißen Tracht antrat, absolut null Humor mitbrachte und nicht mal ansatzweise den Eindruck machte, gemocht werden oder zu den Studenten »einen Draht finden« zu wollen. Die Jesuiten an der DePaul waren bekanntermaßen unsoft. Mein Vater war übrigens katholisch erzogen worden, aber als Erwachsener hatte er mit der Kirche wenig oder nichts mehr am Hut. Die Familie meiner Mutter war ursprünglich protestantisch. Wie so viele Angehörige meiner Generation wurde ich gar nicht religiös erzogen. Dieser Tag in dem baugleichen Seminarraum sollte aber zu einem der unerwartetsten, mächtigsten und elektrisierendsten Augenblicke meines damaligen Lebens werden und prägte sich mir so sehr ein, dass ich sogar noch weiß, was ich anhatte, als ich dort saß – einen rotbraun gestreiften Acrylpulli, eine weiße Malerhose und Boots von Timberlands, deren Farbe mein Mitbewohner – ein tüchtiger Chemiestudent; die Zeit der Steve Edwardses und rotierenden Füße lag hinter mir – »hundekotgelb« nannte und deren offene Schnürsenkel nachschleiften wie bei den Timberlands von allen Bekannten, mit denen ich in jenem Jahr abhing.
Ich finde übrigens, dass sich Bewusstwerdung vom Nachdenken unterscheidet. Das habe ich mit den meisten Menschen gemeinsam, glaube ich, dass ich meine wichtigsten Gedanken nicht in großen absichtlichen Blöcken denke, mich eben nicht ungestört hinsetze, schon genau weiß, worüber ich nachdenken will – beispielsweise »Ich werde über das Leben nachdenken, über meinen Platz im Leben und das, was mir wirklich wichtig ist, damit ich konkrete, genau definierte Ziele und Pläne für meine Berufslaufbahn formulieren kann« –, und dann dasitze und darüber nachdenke, bis ich zu einer Schlussfolgerung gelangt bin. So funktioniert das nicht. Bei mir läuft das wichtigste Denken auf
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