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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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bestimmte psychologische Gründe geben musste, warum ich mit einem Menschen zusammenwohnte, aß, abhing und Feten besuchte, den ich weder besonders mochte noch auch nur respektierte ... was wahrscheinlich bedeutete, dass ich mich selbst auch nicht besonders respektierte und dass das daran lag, dass ich so ein Konformist war. Und das Entscheidende ist, wenn ich dasaß und mitbekam, wie Steve dem Mädchen am Telefon erklärte, er hätte schon immer das Gefühl gehabt, die Frauen von heute dürften nicht nur als Sexobjekte begriffen werden, wenn es auch nur die geringste Hoffnung für die Menschheit geben sollte, konnte ich das alles für mich selbst auf den Begriff bringen, ganz klar und bewusst, statt mich mit diesen Empfindungen und Reaktionen in Bezug auf ihn nur treiben zu lassen, ohne dass sie mir so recht bewusst geworden wären. Im Grunde genommen hieß es quasi, aufzuwachen und zu merken, wie unbewusst ich normalerweise lebte, und zu wissen, dass ich wieder einschlafen würde, sobald die künstliche Wirkung des Speeds abklang. D. h., es war nicht mehr nur Spaß und Spiel. Aber es fühlte sich lebendig an, und deswegen mochte ich es wahrscheinlich. Es fühlte sich an, als würde ich mich tatsächlich besitzen . Und nicht nur mieten oder so – ich weiß auch nicht. Aber die Analogie klingt jetzt billig, wie ein billiges Bonmot. Es lässt sich schwer erklären, und die Erklärung kostet wahrscheinlich mehr Zeit, als nötig wäre. Und ich will hier bestimmt auch nicht den Drogenmissbrauch schönreden. Aber es war wichtig. Heute stelle ich mir Obetrol und die anderen Speedvarianten gern als eine Art Wegweiser oder Richtzeichen vor, die auf etwas hindeuteten, was möglich sein konnte, wenn mir der Alltag nur bewusster wurde. So gesehen, war der Drogenmissbrauch für mich eine wertvolle Erfahrung, weil ich in dieser Zeit eigentlich so nichtsnutzig und ziellos war, dass ich klare und unverblümte Hinweise brauchte, dass zu einem lebendigen, verantwortungsbewussten und autonomen Erwachsenen weit mehr gehörte, als ich mir damals auch nur entfernt vorstellen konnte.
    Andererseits versteht sich von selbst, dass der Schlüssel im Maßhalten lag. Man konnte nicht die ganze Zeit Obetrol nehmen, verdoppelt und bewusst dasitzen und sich gleichzeitig erfolgreich um seinen ganzen Kram kümmern. Ich erinnere mich beispielsweise, dass ich Camus’ Der Fall nicht rechtzeitig gelesen bekam und in der Zwischenprüfung in Literatur der Entfremdung totalen Bockmist schreiben musste – anders gesagt, ich schummelte, zumindest indirekt –, was mich aber nicht groß juckte, soweit ich mich entsinne, mal abgesehen von einer zynischen, angewiderten Erleichterung, als der Assistent des Professors unter das B irgendwas à la »Stellenweise nicht uninteressant« schrieb. Also eine sinnlose Bockmistreaktion auf sinnlosen Bockmist. Aber ein kraftvolles Gefühl ließ sich nicht bestreiten – das Gefühl, dass alles Wichtige vor meiner Nase lag und dass ich manchmal unvermittelt aufwachen konnte, mitten in dem ganzen sinnlosen Bockmist, und mir das plötzlich bewusst wurde. Das ist schwer zu erklären. In Wahrheit glaube ich heute, dass das Obetrol und die Verdopplung das erste Aufflackern jener treibenden Kraft waren, die mich dann, wie ich glaube, zum Service und den speziellen Problemen und Prioritäten hier im Regionalprüfzentrum brachte. Es hatte mit Aufmerksamkeit und der Fähigkeit zu tun, mich zu entscheiden, worauf ich achtete, und mir dieser Entscheidung bewusst zu sein, also der Tatsache, dass es eine Entscheidung war. Ich bin kein Intelligenzbolzen, aber sogar mir schwante in dieser ganzen mickrigen und ziellosen Zeit insgeheim, dass es im Leben und in mir um mehr ging als nur um die gewöhnliche psychologische Befriedigung von Lust und Eitelkeit, von der ich mich treiben ließ. Dass es in mir Tiefen gab, die kein kindischer Bockmist, sondern tiefgründig waren und auch nicht abstrakt, sondern im Grunde viel realer als meine Kleider oder mein Selbstbild und die auf fast heilige Weise loderten – ich mein das ernst; ich versuche nicht bloß, das dramatischer klingen zu lassen, als es war –, und dass es bei diesen wahrhaftigsten, tiefgründigsten Teilen von mir nicht nur um Triebe oder Gelüste ging, sondern um schlichte Aufmerksamkeit, Bewusstheit, wenn ich bloß auch ohne Speed wach bleiben konnte.
    Aber das konnte ich nicht. Wie schon gesagt, konnte ich mich hinterher meistens gar nicht erinnern, was mir da als so klar und

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