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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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und kannte nicht einmal seinen Namen. Mit Vertretungslehrern hatte ich hauptsächlich an der Highschool zu tun gehabt. Was sein Alter anging, hätte ich nur sagen können, dass er in diesem (für mich) amorphen Bereich zwischen vierzig und sechzig war. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll, aber er hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Er war schlank, und im Neonlicht des Seminarraums wirkte er blass, aber eher leuchtend als kränklich, hatte einen stahlgrauen Bürstenschnitt und irgendwie markante Wangenknochen. Insgesamt wirkte er auf mich wie jemand auf einem alten Foto oder einer Daguerreotypie. Die Hose seines Geschäftsanzugs hatte doppelte Bundfalten, was den Eindruck kantiger Solidität noch verstärkte. Außerdem hielt er sich sehr gerade, was mein Vater immer als die »Haltung« eines Menschen bezeichnete – aufrecht und die Schultern durchgedrückt, ohne aber steif zu wirken –, und als er mit seinem Akkordeonordner voller sorgfältig sortierter und beschrifteter Lehrmaterialien so schwungvoll hereinkam, richteten sich alle anwesenden Studenten des Rechnungswesens an ihren Seminarpulten unwillkürlich ein wenig auf. Er zog die Leinwand vor der Tafel herab, wie man eine Jalousie herabzieht, und legte dabei sein Taschentuch über den Leinwandgriff. Soweit ich mich erinnern kann, saßen in dem Raum praktisch nur Männer. Darunter eine Handvoll Asiaten. Er nahm seine Unterlagen heraus, legte sie zurecht und sah mit dem Anflug eines Lächelns auf die Tischplatte. Das war so ein typisches Lehrerding, die Anwesenheit der Studenten im Raum zu konzedieren, ohne sie anzusehen. Und sie waren umgekehrt absolut konzentriert, bis auf den letzten Mann. In dem Seminar herrschte eine ganz andere Atmosphäre als in den Politologie- oder Psychologieseminaren und sogar der Einführung ins Rechnungswesen, wo immer Müll auf dem Boden lag, die Leute auf den Stühlen runterrutschten, bis das Steißbein gerade noch die Sitzfläche berührte, unverhohlen auf die Uhr sahen oder gähnten und wo immer ein ständiges, ruheloses Flüstern in der Luft lag, das der Professor für Einführung ins Rechnungswesen geflissentlich überhörte – vielleicht hörten normale Profs das auch gar nicht mehr, oder sie waren immun gegen die öffentliche studentische Zurschaustellung von Überdruss und Unaufmerksamkeit. Aber als der Ersatzdozent für Steuerprüfung II hereinkam, änderte sich schlagartig die Spannung im Raum. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Und rational kann ich letztlich auch nicht erklären, warum ich blieb – immerhin verpasste ich dadurch, wie gesagt, das Repetitorium in Amerikanischer Verfassungsgeschichte. Einfach im falschen Seminar sitzen zu bleiben, schien mir damals auch bloß so ein nichtsnutziger, undisziplinierter Impuls zu sein. Vielleicht wäre es mir zu peinlich gewesen, wenn der Ersatzdozent gesehen hätte, wie ich ging. Im Gegensatz zu der Christenfreundin erkenne ich einen wichtigen Augenblick anscheinend nie auf Anhieb, sondern halte ihn zunächst für eine Ablenkung von dem, was ich eigentlich tun sollte. Eine mögliche Erklärung wäre, dass er etwas Besonderes an sich hatte – der Ersatzdozent. Seine Miene hatte dieselbe ausgebrannte, hohle Konzentration, die man auf Fotos von Veteranen findet, die im Krieg waren und echte Kampferfahrung haben. Seine Augen nahmen uns als Ganzes wahr, als Gruppe. Ich weiß, dass ich mich in meiner Malerhose und den offenen Timberlands auf einmal unbehaglich fühlte, aber wenn der Ersatzdozent das überhaupt irgendwie zur Kenntnis genommen hatte, ließ er sich nichts anmerken. Als er das Zeichen für den Beginn der Lehrveranstaltung gab, indem er auf die Uhr sah, geschah das in einer knappen Geste, bei der sein Handgelenk ruckartig und mit einer halben Drehung nach vorn schnellte wie der linke Kreuzschlag eines Boxers; der Schwung ließ den linken Jackettärmel hochrutschen und entblößte eine Piaget aus Edelstahl, und ich weiß noch, damals fand ich, für einen Jesuiten wäre das eine überraschend mondäne Uhr.
    Auf die weiße Leinwand projizierte er Folien – anders als der Prof der Einführung ins Rechnungswesen schrieb er nichts mit Kreide an die Tafel –, und als er die erste Folie auf den Overheadprojektor legte und den Seminarraum abdunkelte, wurde sein Gesicht wie das eines Varietékünstlers von unten beleuchtet, was seine hohle Intensität und die Schädelknochen noch stärker betonte. Ich erinnere mich, dass sich mein Kopf irgendwie

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