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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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elektrisch kühl anfühlte. Die hinter ihm gezeigte Grafik war eine ansteigende Kurve mit einem Balkendiagramm unter den Einzelsegmenten, und die Kurve war anfangs steil und flachte am Scheitelpunkt dann etwas ab. Sie erinnerte ein bisschen an eine Welle kurz vor dem Brechen. Die Grafik war unbeschriftet, und mir ging erst später auf, dass sie die progressiven Grenzsteuersätze der Bundessteuer 1976 darstellte. Ich fühlte mich ungewöhnlich wach und aufmerksam, aber anders als beim Verdoppeln oder unter Cylert. Es gab auch diverse Kurven, Gleichungen und kommentierte Zitate aus § 62 des amerikanischen Steuerrechts, dessen Unterabschnitte oft mit komplexen Vorschriften über die Unterscheidung zwischen abzugsfähigen Beträgen »bei« bereinigten Bruttoerträgen und »von« bereinigten Bruttoerträgen zu tun hatten, die dem Ersatzdozenten zufolge die Grundlage praktisch jeder wirklich effizienten modernen individuellen Steuerplanungsstrategie bildeten. Erst später, nach der Anwerbung, erkannte ich, dass er damit meinte, man solle seine Einkommensverhältnisse so strukturieren, dass ein möglichst hoher Prozentsatz aus abzugsfähigen Beträgen »bei« bereinigten Bruttoerträgen bestehe, da es bei allem vom Regelsatz bis hin zu Arztkostenabzügen Untergrenzen der bereinigten Bruttoerträge gäbe ( Untergrenze bedeutet beispielsweise: Da nur Arztkosten über 3 Prozent der bereinigten Bruttoerträge abzugsfähig sind, ist es eindeutig von Vorteil für den durchschnittlichen Steuerzahler, seine bereinigten Bruttoerträge – die manchmal auch einfach »31« genannt werden, weil man sie unter Ziffer 31 des Steuererklärungsformulars einträgt – so niedrig wie möglich zu halten).
    Auch wenn ich mich also wach und aufmerksam fühlte, wurden mir zugegebenermaßen wahrscheinlich eher die Auswirkungen der Vorlesung auf mich bewusst als ihr Inhalt, der mir großenteils zu hoch war – was kein Wunder ist, schließlich hatte ich ja noch nicht mal die Einführung ins Rechnungswesen bestanden –, aber trotzdem war es fast unmöglich, wegzusehen oder sich nicht aufgerüttelt zu fühlen. Teilweise lag das an der Präsentation des Ersatzdozenten, die rasant, strukturiert, undramatisch und trocken war wie bei so vielen Menschen, die wissen, dass das, was sie zu sagen haben, an und für sich zu kostbar ist, um es durch Überlegungen zur Vortragsweise schlechtzumachen, oder weil sie einen Draht zu den Studenten suchen. Anders gesagt, die Präsentation war von einer enthusiastischen Integrität, die sich nicht als Stil, sondern als dessen Fehlen manifestierte. Ich hatte das Gefühl, dass ich plötzlich zum ersten Mal verstand, was mein Vater immer mit »sachlich« meinte und warum das für ihn ein positiv besetzter Begriff war.
    Ich weiß noch, dass mir auffiel, dass alle Studenten im Seminar mitschrieben, was im Rechnungswesen bedeutet, dass man eine Tatsache oder einen Satz des Professors verinnerlichen und aufschreiben muss, gleichzeitig aber aufmerksam genug zuhören muss, um auch den nächsten Satz aufschreiben zu können, was eine deutlich geteilte Aufmerksamkeit erfordert, der ich erst im Jahr darauf auf den Trichter kam, als ich schon am SMZ in Indianapolis war. Es war ein völlig anderes Mitschreiben als in geisteswissenschaftlichen Seminaren, wo man hauptsächlich Männchen malt und allgemeine und abstrakte Themen und Begriffe festhält. In Steuerprüfung II hatten sich die Studenten außerdem unzählige Bleistifte auf die Pulte gelegt, die alle frisch gespitzt waren. Mir fiel ein, dass ich nie einen spitzen Bleistift dabeihatte, wenn ich wirklich einen brauchte; ich hatte mir nie die Mühe gemacht, sie zu sortieren und anzuspitzen. Der einzige Anflug von so etwas wie trockenem Humor in der Vorlesung ging von gelegentlichen Aussagen und Zitaten aus, die der Ersatzdozent zwischen den Grafiken einschaltete, manchmal auf die jeweils aufliegende Folie schrieb, kommentarlos auf die Leinwand projizierte und dann kurz wartete, während alle den Satz so schnell wie möglich abschrieben, bevor er schon wieder die nächste Folie auflegte. An ein Beispiel erinnere ich mich noch – »Im gesellschaftlichen Bereich gilt es nun, das moralische Äquivalent des Krieges zu entdecken«, was unten einfach nur »James« zugeschrieben wurde, was ich damals aus mir heute unerfindlichen Gründen auf die King James Bible bezog –, dabei sagte er gar nichts, um das Zitat zu erklären oder zu untermauern, während die sechs geraden Reihen von

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