Der bleiche König: Roman (German Edition)
sowieso nur ein Plätzchen im Warmen gesucht hatte) außer für die allerniedrigsten Tätigkeiten im IRS praktisch schon disqualifiziert hatte, als er angesichts der Abstrusität der Präsentation auf seiner Stuhllehne wegdöste. Außerdem mussten über zwanzig verschiedene Formulare ausgefüllt werden, von denen viele überflüssig waren – mir wurde jedenfalls nicht klar, warum man nicht einfach eines ausfüllen und davon dann die gewünschte Anzahl von Xerokopien ziehen konnte, aber auch hier behielt ich meine Meinung für mich und trug einfach ein und dieselben Informationen ein ums andre Mal ein.
Obwohl diese erste Anwerbungspräsentation und -abwicklung insgesamt kaum mehr als 5.750 Wörter umfasste, dauerte sie fast drei Stunden, in denen es mehrere Pausen gab, in denen der Werber verstummte und in unpassender lastender Stille dasaß, wobei er durchaus auch eingeschlafen sein mag – durch die Sonnenbrille ließ sich das nicht verifizieren. (Später erfuhr ich, dass auch diese unerklärlichen Pausen zur ersten Kandidatendurchleuchtung und »dispositionellen Begutachtung« gehörten, dass in dem schäbigen Anwerbungsbüro in Wirklichkeit ein ausgeklügeltes Videosystem installiert war – laut dem verklausulierten Kleingedruckten in einem der erforderlichen Formulare hatte ich auch eine »Einverständniserklärung zur Aufzeichnung« unterschrieben, was mir damals natürlich entgangen war – und dass unsere Herumrutsch- und Gähnfrequenz sowie bestimmte Charakteristika von Haltung, Gestik und Mimik in spezifischen Kontexten analysiert und mit diversen psychologischen Schablonen und Normblättern verglichen wurden, die die Unterabteilung Anwerbung und Ausbildung im Geschäftsbereich Personal der Abteilung Interne Kontrolle des Service schon einige Jahre zuvor entwickelt hatte, was wiederum eine lange und verwickelte Geschichte ist, bei der es um den Nachdruck geht, mit dem der Service in den 1960ern und ’70ern den »Durchlauf« maximieren wollte, also die höchstmögliche Verarbeitungskapazität in puncto Volumen von Steuererklärungen und Dokumenten, die in einem gegebenen Steuerquartal verarbeitet, geprüft, revidiert und bereinigt werden konnten. Obwohl das Effizienzkonzept des Service in den 1980ern Veränderungen durchlief, als neue Regierungsprioritäten durch das Finanzministerium und Tripel-Sechs bis zu uns durchsickerten und der behördliche Nachdruck sich von der Menge verarbeiteter Steuererklärungen auf die Maximierung des Steueraufkommens verschob, erforderte der damalige Nachdruck – also im Januar 1979 – die Durchleuchtung von Kandidaten unter dem Aspekt, ob sie die Fähigkeit besaßen, unter Bedingungen extremer Langeweile, Kompliziertheit, Verwirrung und dem Mangel an umfassenden Informationen die Konzentration zu behalten. In den Worten eines Ausbilders in Steuerprüfung am SMZ Indianapolis suchte der Service »nach Zahnrädern und nicht nach Zündkerzen«.
Es wurde schon langsam dunkel und fing wieder an zu schneien, als der Werber das Verfahren endlich für beendet erklärte und jeder von uns – inzwischen saßen vielleicht fünf oder sechs Leute im Publikum, von denen einige während der formellen Präsentation hereingeschlittert waren – einen riesdicken Stoß zusammengetackerter Materialien in einer großen blauen IRS -Mappe erhielt. Die abschließenden Anweisungen des Werbers lauteten, wenn wir potenziell immer noch interessiert wären, sollten wir nach Hause gehen, diese Materialien sorgfältig durchlesen und am nächsten Tag – der, wenn ich mich korrekt erinnere, ein Freitag gewesen sein muss – für die nächste Phase des Anwerbungsprozesses zurückkommen.
Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, in einem Interview alle möglichen Fragen zu meiner Vorgeschichte, meinem Werdegang und meinen Zielvorstellungen hinsichtlich Karriere und Engagement gestellt zu bekommen. Ich war davon ausgegangen, sie würden überprüfen wollen, ob ich es ernst meinte und beim IRS nicht bloß die Übernahme irgendwelcher Weiterbildungskosten abzocken wollte. Ich war naheliegenderweise davon ausgegangen, beim Internal Revenue Service – vor dem mein Vater, der durch seinen Job bei der City logischerweise immer wieder und auf den verschiedensten Ebenen mit dem IRS zu tun gehabt hatte, einen Heidenrespekt hatte – wäre man äußerst sensibel für die Möglichkeit, bloß abgezockt oder behumpst zu werden, und ich erinnere mich, dass ich mir auf dem langen Marsch von der Bushaltestelle her Sorgen
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