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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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Nägel durch die Handgelenke, nicht durch die Hände getrieben werden mussten. Daher auch die, Zitat, »notwendig gleichzeitige Wahrheit und Falschheit der Stigmata«, die der existenzialistische Theologe Emile M. Cioran in seinen 1937 erstmals erschienenen und 1986 massiv überarbeiteten Lacrimi si Sfinti erläutert, derselben Monografie, in der er auch das menschliche Herz als »offene Wunde Gottes« bezeichnet.
     
    Allein die Taillenbereiche des Jungen vom Nabel bis zum Schwertfortsatz am unteren Ende des Brustbeins erforderten neunzehn Monate der Dehn- und Haltungsübungen, die in ihren extremeren Teilen wirklich sehr schmerzhaft gewesen sein müssen. In diesem Stadium machte die weitere Flexibilitätssteigerung nur noch so subtile Fortschritte, dass sie ohne eine äußerst präzise tägliche Dokumentation nicht feststellbar gewesen wären. Bestimmte Dehnbarkeitsgrenzen des Ligamentum flavum, der Kapseln und der Bänder an den Dornfortsätzen von Hals und oberem Rückenbereich wurden sanft, aber beharrlich erweitert, das Kinn des Jungen in der Mitte des Brustbeins auf die (löslich bepfeilte und getüpfelte) Brust gedrückt und dann graduell hinabgeschoben – einen, manchmal 1,5 Millimeter am Tag –, und diese katatonische und/oder meditative Haltung wurde eine Stunde und länger beibehalten.
    Im Sommer füllte sich der Baum draußen vor dem Fenster des Jungen während dieser frühmorgendlichen Übungen mit Stärlingen, die kamen und gingen; wenn die Sonne höher stieg, füllte sich der Baum mit dem gellenden Kreischen der Vögel, zerfetzenden Geräuschen, die sich, während der Junge im Schneidersitz dasaß und das Kinn auf die Brust drückte, durch die Scheibe wie das Lösen rostiger Schrauben anhörten, etwas komplex Verklemmtes, das sich mit einem Kreischen löst. Hinter dem nach Süden stehenden Baum waren die perspektivisch verkürzten Dächer der Nachbarschaft zu sehen, der Hydrant, das Straßenschild der Querstraße und die achtundvierzig identischen Dächer eines Sozialwohnungskomplexes jenseits der Querstraße, und hinter diesem Komplex wiederum, schon fast am Horizont, begannen am Stadtrand die Ränder der grünen Getreidefelder. Im Spätsommer war das Grün der Äcker ausgebleichter, im Herbst waren es nur noch traurige Stoppelfelder, und im Winter sah der karge Ackerboden dann nur noch wie er selbst aus.
    In der Grundschule, wo das Verhalten des Jungen vorbildlich war, seine Hausaufgaben erledigt wurden und seine grafisch erfassten Fortschritte im Mittelbereich aller relevanten Kurvenverläufe lagen, war er unter seinen Klassenkameraden ein solcher Außenseiter, dass er nicht einmal gehänselt wurde. Schon in der dritten Klasse hatte er sich infolge der Hingabe an sein Anliegen körperlich ungewöhnlich entwickelt; trotzdem trug irgendetwas in seinem Erscheinungsbild oder seiner Haltung dazu bei, von der üblichen Schulhofgrausamkeit verschont zu bleiben. Er hielt sich an die Schulordnung und verrichtete befriedigende Gruppenarbeit. Die schriftlichen Beurteilungen seines Sozialverhaltens beschrieben ihn nicht einmal als verschlossen oder reserviert, sondern als »ruhig«, »ungewöhnlich selbstsicher« und »zurückgehalten [sic!]«. Der Junge machte weder Mühe noch Freude und fiel nicht weiter auf. Es ist nicht bekannt, ob ihn das beschäftigte. Der größte Teil seiner Zeit, Energie und Aufmerksamkeit gehörte dem langfristigen Anliegen und den damit einhergehenden täglichen Übungen.
     
    Es ließ sich auch nie abschließend ermitteln, warum der Junge sich zum Ziel gesetzt hatte, seine Lippen auf jeden einzelnen Quadratzentimeter seines Körpers drücken zu können. Es ist nicht einmal klar, ob er das Ziel in einem herkömmlichen Sinne als bedeutende »Leistung« empfand. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte er Ripley nicht gelesen und von den McWhirters nie gehört – es war definitiv nicht nur eine Art Kunststück. Auch keine Selbsterhöhung; das ist gesichert; der Junge hatte keinen bewussten Wunsch, etwas zu »transzendieren«. Hätte ihn jemand gefragt, hätte er nur gesagt, er hätte beschlossen, er wolle seine Lippen auf jeden einzelnen Mikrometer seines Körpers drücken. Er wäre nicht imstande gewesen, mehr als das zu sagen. Einsichten oder Vorstellungen, Teile seiner selbst könnten ihm »unzugänglich« sein (wie wir alle uns selbst unzugänglich sind und die Körper anderer auf Arten berühren können, die uns bei unseren eigenen Körpern verwehrt sind), oder seine anscheinend

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