Der bleiche König: Roman (German Edition)
behandelte. Sie wies den Jungen an, jeden Tag seine Dehnübungen zu machen und sich von Langeweile oder einem Rückgang der Symptome nicht von der disziplinierten Fortsetzung seiner Rehabilitationsübungen abhalten zu lassen. Sie sagte, das langfristige Ziel sei nicht der Abbau der gegenwärtigen Beschwerden, sondern eine neurologische Gesundheitspflege und eine Ganzheit von Körper und Geist, die er eines Tages sehr zu schätzen wissen werde. Dem Vater des Jungen verschrieb Dr. Kathy ein pflanzliches Entspannungsmittel.
Dr. Kathy war es also, die das Kind offiziell sowohl mit zunehmenden Beugungen als auch mit erwachsenen Vorstellungen von ruhiger täglicher Disziplin und langsamen Fortschritten auf ein langfristiges Ziel hin vertraut machte. Das erwies sich als Glücksfall. In der fünfwöchigen Bettlägrigkeit mit einem subluxierten dritten Brustwirbel – oft mit so großen Beschwerden, dass auch der Inhalator nicht gegen das Asthma ankam, das immer dann zuschlug, wenn der Junge an Schmerzen oder Erschöpfung litt – wich der ungestüme kindliche Enthusiasmus der Einsicht, dass das Anliegen, die Lippen auf jeden einzelnen Quadratzentimeter seiner selbst zu drücken, ein Maximum an Mühe, Disziplin und Einsatz erforderte, das über einen Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden müsste, den er sich (seines Alters wegen) noch gar nicht vorstellen konnte.
Dr. Kathy hatte sich u. a. Zeit dafür genommen, dem Jungen an einem frei stehenden Drei-D-Modell zu demonstrieren, wie eine menschliche Wirbelsäule aussah, die nicht pfleglich behandelt worden war. Sie wirkte dunkel, verkümmert, nekrotisch und traurig. Ihre Höcker und das Weichgewebe waren entzündet, und der Anulus fibrosus der Bandscheiben hatte die Farbe schlechter Zähne. An der Wand hinter diesem Modell hing eine handgeletterte Tafel oder ein Schild, das die von Dr. Kathy gern angeführten zwei Zahlungsmodalitäten für die Wirbelsäule und die damit zusammenhängenden Muskeln und Nerven auflistete: jetzt und später.
Die meisten professionellen Verrenkungskünstler sind ganz einfach Menschen, die mit angeborenen atrophischen/dystrophischen Bedingungen der Musculi majori recti, mit akuten lordotischen Verkrümmungen der Lendenwirbelsäule oder beidem auf die Welt kommen. Eine Mehrheit zeigt außerdem Chvostek-Zeichen oder andere Formen ipsilateraler spastischer Lähmungen. In ihre »Kunst« ist also sehr wenig Mühe oder Einsatz investiert worden. Als britische Gelehrte 1932 die tamilische Mystik erforschten, dokumentierten sie eine präadoleszente Ceyloneserin, die beide Arme bis zu den Schultern, ein Bein bis zur Leiste und das andere bis zur Kniescheibe in den Mund und die Speiseröhre hinabstecken konnte und hernach imstande war, ohne Hilfestellung auf dem oral hervorragenden Knie mit über 300 U/min zu rotieren. Das Phänomen der Suiphagie (sinngemäß des Selbstverschluckens) wurde in der Folge als seltene Form eines inanitiven Pikazismus diagnostiziert, die in den meisten Fällen auf Kadmium- und/oder Zinkmangel zurückgeht.
Die Schenkelinnenseiten des Jungen bis hoch zur Mittelgabelung in der Leiste erforderten monatelange Vorbereitung; jeden Tag verbrachte er mehrere Stunden vorgebeugt im Schneidersitz und dehnte langsam und zunehmend die langen Vertikalfaszien von Nacken und Rücken, den Spinalis thoracis, den Levator scapulae und den Iliocostalis lumborum bis zum Kreuzbein sowie an den dichten und unnachgiebigen Schenkelinnenseiten den Gracilis, den Pectineus und den Adductor longus, die unter dem Scarpa-Dreieck zusammenlaufen und einen Übelkeit erregenden Schmerz ins Schambein ausstrahlen, wenn ihre Flexibilität überschritten wird. Hätte jemand ihn in diesen zwei- bis dreistündigen Dehnungseinheiten gesehen, wie er die Sohlen aneinanderlegte, um den Pectineus zu dehnen, dabei ganz leicht wippte und sich im Schneidersitz weit vorbeugte, um die große kompakte Fläche der thorakolumbalen Faszien zu weiten, die sein Becken mit den dorsalen Rippen verbanden, so hätte dieser Jemand den Jungen wohl für andächtig, katatonisch oder beides gehalten.
Als die vorderen Schenkelziele erreicht und mit einer oder beiden Lippen berührt worden waren, fiel der obere Bereich der Genitalien leicht, wurde mit gespitzten Lippen geküsst und ad acta gelegt, denn schon wurden Pläne für Darmbein und Gesäßaußenseiten vorbereitet. Sobald auch diese bezwungen waren, kamen die weit schwierigeren und den Hals stärker beanspruchenden Verrenkungen
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