Der bleiche König: Roman (German Edition)
an die Reihe, um Zugang zu Gesäßinnenseiten, Perineum und oberer Leiste zu erhalten.
Der Junge war sieben geworden.
Der Ort, an dem er seinem seltsamen, aber neu gereiften Anliegen nachging, war sein Kinderzimmer, dessen Tapete ein sich wiederholendes Dschungelmotiv zierte. Aus dem Fenster dieses Zimmers im ersten Stock sah man in einen Baum im Hinterhof. Das vom Baum gefilterte Sonnenlicht fiel zu verschiedenen Tageszeiten in verschiedenen Winkeln und Intensitäten ins Zimmer und beschien verschiedene Körperpartien des Jungen, der auf dem Teppichboden stand, saß, lehnte oder lag, sich dehnte und Stellungen hielt. Der Teppichboden seines Zimmers war weiß und zottelig und hatte etwas Eisbäriges, das, wie der Vater des Jungen fand, nicht zu den an der Wand sich abwechselnden Tigern, Zebras, Löwen und Palmen passte; diese Gefühle behielt der Vater aber für sich.
Eine radikale Steigerung der Lippenspitzungskapazität erfordert systematisches Trainieren der Maxillarfaszien, zu denen der Depressor septi, der Orbicularis oris, der Depressor anguli oris, der Depressor labii inferioris sowie die Buccinator-, Zirkumoral- und Risorius-Gruppen zählen. Auch der Musculus zygomaticus ist partiell beteiligt. Praxis: Man befestigt einen Bindfaden am Wetherly-Knopf mit einem Durchmesser von mindestens 3,8 Zentimeter, den man vom zweitbesten Regenmantel des Vaters geborgt hat; man legt den Knopf vor die oberen und unteren Schneidezähne und umschließt ihn mit den Lippen; man hält den Bindfaden straff gespannt und im rechten Winkel zur Gesichtsfläche, zieht mit graduell steigender Spannung und leistet mit den Lippen Widerstand; zwanzig Sekunden anhalten; wiederholen; wiederholen.
Manchmal setzte sich der Vater vor dem Zimmer des Jungen auf den Boden und lehnte den Rücken an die Tür. Ungeklärt ist, ob der Junge je mitbekam, dass er auf Bewegungen im Zimmer horchte, obwohl das Holz der Tür manchmal knarrte, wenn der Vater Platz nahm, im Flur wieder aufstand oder seine sitzende Haltung an der Tür veränderte. Drinnen dehnte sich der Junge und hielt seine Verrenkungspositionen über außergewöhnliche Zeitspannen hinweg. Der Vater neigte zur Nervosität und hatte ein gehetztes und zappeliges Wesen, wodurch er immer den Eindruck machte, im Aufbruch zu sein. Er übte extensive unternehmerische Aktivitäten aus und war die meiste Zeit in Bewegung. In den geistigen Fotoalben der meisten Menschen nahm er nur einen provisorischen Platz ein und wurde quasi von einer punktierten Linie gerahmt – der Inbegriff eines Menschen, der beim Aufbrechen noch eine freundliche Bemerkung über die Schulter wirft. Die meisten seiner Kunden fühlten sich in Gegenwart des Vaters unsicher. Den größten Erfolg hatte er am Telefon.
Als der Junge acht Jahre alt war, zeigten sich die ersten Folgen des langfristigen Ziels auf seine körperliche Entwicklung. Seinen Lehrern fielen Veränderungen von Haltung und Gang auf. Auch das Lächeln des Jungen, das jetzt von Dauer war, weil sich die Hypertrophie der Lippen auf die Zirkumoralmuskulatur auswirkte, wirkte unnatürlich, starr und überbreit und hatte, um es mit den wertenden Worten eines Hauswarts zu sagen, »in dieser runden Welt nicht seinesgleichen«.
Fakten: Der italienische Stigmatiker Padre Pio hatte sein ganzes Leben lang mittige Wunden in der linken Hand und in beiden Füßen. Die umbrische Heilige Veronica Giuliani zeigte Wunden in einer Hand sowie über der Hüfte, die sich auf ihr Geheiß hin öffneten und schlossen. Giovanna Solimani, die heilige Frau aus dem 18. Jahrhundert, erlaubte Pilgern, spezielle Schlüssel in ihre Handwunden einzuführen und zu drehen, was die Heilung dieser Klienten von ihrer rationalistischen Verzweiflung ermöglicht haben soll.
Sowohl dem Heiligen Bonaventura als auch Tomas de Celano zufolge wiesen die Handstigmata des heiligen Franz von Assisi stäbchenförmiges Gewebe auf, das als verhärtete schwarze Sehnen aus beiden Volarflächen ausgetrieben wurde. Wurde auf diese sogenannten »Nägel« in den Handflächen Druck ausgeübt, so fuhren aus den Handrücken unverzüglich verhärtete schwarze Sehnenstäbe, ganz als würde ein echter sogenannter »Nagel« durch die Hand getrieben.
Dabei gilt (Tatsache): Menschlichen Händen fehlt die anatomische Masse, um das Gewicht eines Erwachsenen zu tragen. Sowohl römische Rechtstexte als auch moderne Analysen von Skeletten aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert belegen, dass bei antiken Kreuzigungen die
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