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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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Schmerzintensität steigt auch nicht zwingend proportional zum Ausmaß und zur Schwere der Verletzung; die Korrelation hängt auch davon ab, ob die »Schmerzleitungen« im Tractus spinothalamicus lateralis unversehrt sind und innerhalb festgelegter Normen funktionieren. Ferner kann die Persönlichkeit eines neurotischen Patienten das Schmerzempfinden verstärken, und eine stoische oder widerstandsfähige Persönlichkeit kann seine wahrgenommene Intensität verringern.
     
    Niemand fragte ihn je. Sein Vater glaubte nur, er hätte ein exzentrisches, aber sehr biegsames und gelenkiges Kind, das sich Kathy Kessingers Predigten über die Vorsorge für einen gesunden Rücken so zu Herzen genommen hatte, wie sich manche Kinder derlei eben zu Herzen nehmen, und jetzt viel Zeit darauf verwendete, seinen Körper biegsamer und gelenkiger zu machen, was hinsichtlich der schrägen Triebfedern kindlichen Handelns vielen anderen nachlässigen oder schädlichen Obsessionen, die dem Vater einfallen wollten, vorzuziehen war. Der Vater, ein Unternehmer, verkaufte von zu Hause aus Motivationskassetten im Postversand, war durch Seminare und geheimnisvolle abendliche Vertreterbesuche aber oft abwesend. Das Elternhaus des Jungen ging nach Westen und war groß, schmal und zeitgenössisch; es glich einer Doppelhaushälfte, dem die andere Hälfte plötzlich abhandengekommen war. Es war mit olivfarbenem Aluminium verkleidet und lag an einer Sackgasse, an deren Nordende sich der Seiteneingang des drittgrößten Friedhofs im Landkreis befand, dessen Name oben am schmiedeeisernen Haupteingang, aber nicht über dem Seiteneingang stand. Wenn der Vater an seinen Jungen dachte, fiel ihm immer das Wort pflichtbewusst ein, was ihn überraschte, denn das war ein ziemlich altmodisches Wort, und er hatte keine Ahnung, wie er darauf kam, wenn er vor der Tür saß und an ihn dadrinnen dachte.
    Doktor Kathy, die den Jungen manchmal zu Fortsetzungen prophylaktischer Korrekturen von Brustwirbeln, Gelenkfacetten und Spiralnerven sah, war keine Kurpfuscherin oder Quacksalberin in einer Einkaufszentrumsklitsche, sondern einfach eine Chiropraktikerin, die an den interdependenten Tanz von Wirbelsäule, Nervensystem, Geist und Kosmos als Totalität glaubte – an das Universum als ein unendliches System neuraler Verbindungen, die am Höhepunkt ihrer Evolution einen Organismus hervorgebracht hatten, der ein Bewusstsein seiner selbst und des Universums zugleich entwickelt hatte, sodass das menschliche Nervensystem die Methode des Universums widerspiegelte, sich seiner selbst bewusst und damit »zugänglich« zu werden –, Doktor Kathy also hielt ihren Patienten für einen sehr stillen, innengelenkten Jungen, der auf das Trauma einer T3-Subluxation mit einer Hingabe an die Vorsorge für einen gesunden Rücken und neurospirituelle Integrität reagiert hatte, die durchaus auf eine spätere Berufswahl im Bereich Chiropraktik hindeuten mochte. Sie war es gewesen, die dem Jungen seine ersten, vergleichsweise einfachen Dehnungsanleitungen gegeben hatte sowie die Kopien von B. R. Faucets berühmten Schaubildern der Neuromuskulatur ((c) 1961, Los Angeles College of Chiropractic), aus denen sich der Junge die frei stehende vierseitige Pappschautafel gefertigt hatte, die, wenn er schlief, über seinem kissenlosen Bett zu wachen schien.
    Des Vaters Glaube an EINSTELLUNG als übergeordneter Determinante der STELLUNG war seit seiner eigenen Adoleszenz felsenfest geblieben, seit jener seltsamen Lebensphase, in der er die Werke von Dale Carnegie sowie die der Willard and Marguerite Beecher Foundation entdeckt und ihre praktischen Philosophien genutzt hatte, um sein Selbstvertrauen zu stärken und seinen gesellschaftlichen Rang zu verbessern – dieser Rang sowie alle zwischenmenschlichen Kontakte und Beziehungen, die als dessen Beweis dienten, wurden wöchentlich aufgezeichnet und die Tabellen und Grafiken dann rein informationshalber innen an der Tür seines Schlafzimmerschranks festgemacht. Selbst als frisch gebackener und insgeheim gequälter Erwachsener arbeitete der Vater noch unermüdlich daran, seine Einstellung zu wahren und zu verbessern und auf diese Weise seine Stellung in Form persönlicher Erfolge zu beeinflussen. An den Spiegel des Arzneimittelschranks im Elternbadezimmer hatte er folgende inspirierende Maximen geklebt, die er zwangsläufig immer wieder las und verinnerlichte, wenn er sich der Körperpflege widmete:
    »KEIN VOGEL FLIEGT ZU HOCH, WENN ER MIT SEINEN

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