Der bleiche König: Roman (German Edition)
Mündern – von der gelben Linie aus zusahen, wie das Blut aus der Speichen- und dann auch aus der ersten volaren Metakarpalarterie rhythmisch hochschoss und auch die Kakijacken der größeren Schüler und die Steuerkonsole der Standbohrmaschine bespritzte, gegen die sie stießen, als sie reflexartig zurückwichen. Das war hier nicht das langsame Hervorquellen eines aufgeschürften Knöchels oder das Tröpfeln, wenn man eins auf die Nase verpasst bekommen hat. Das hier war arterielles Blut unter hohem systolischem Druck, das emporschoss und sich auffächerte, während der Lehrer kniete, die Hand mit der anderen Hand an die Brust presste, die Phalanx der Jungen anstarrte und anscheinend etwas sagte, was durch das Kreischen der Bandsäge nicht zu verstehen war, und auch die Gesichter einiger Gymnasiasten verzerrten sich zu Schreien, die zu sehen, aber nicht zu hören waren, und ganz hinten lösten sich die Ersten von den Schraubzwingen der Standbohrmaschine, liefen zur Klassenzimmertür und fuchtelten mit den Armen in dieser auf der ganzen Welt gleichen Bewegung blinder Panik, während die anderen aneinander oder an Maschinen gedrückt wurden, die Augen weit aufgerissen und die Gehirne im Leerlauf.
... Alle bis auf den kleinen Leonard Stecyk, der nach einer ultrakurzen Schrecksekunde vortrat, schnell und entschlossen von der Seite der kleinen Schar herbeikam, mit der Kante seiner bandagierten Hand auf den doppelt markierten An/Aus-Schalter der Bandsäge hieb, als er hinter der Maschine hervorkam, in seinem Schurz und dem gebügelten weißen Hemd nicht nach links oder rechts sah, einen großen Jungen mit einem Paisley-Stirnband, der mit seinen Keds-Sohlen in einer Lache Menschenblut stand, beiseitestieß – einen Jungen, der nur wenige Tage zuvor Stecyk hinter der Werkzeugwand mit einer Schmiedezange bedroht hatte –, im Nu neben Mr Ingle kniete und die wichtigste Regel der Erstversorgung hämorrhagischer Traumen beherzigte, nämlich gleichzeitig das verletzte Körperteil hochzuhalten und die Schwere des Traumas auf der fünf Punkte umfassenden Ames-Skala zu bestimmen, die Cherry Ames, dipl. KS , in Erste Hilfe bei Verletzungen in der Industrie von 1962 auflistete, das Stecyk im Rahmen seiner Standardvorbereitung auf den Herbstlehrplan 1969 aus der Stadtbücherei ausgeliehen hatte. Stecyk hielt die Hand einfach, so hoch er konnte, ungefähr auf Augenhöhe, während Mr Ingle gekrümmt und zusammengesackt darunter kniete. Es kann nicht genug betont werden, wie schnell das alles ging. Der Daumen und das ihn umgebende Bindegewebe waren nicht vollständig abgetrennt, sondern noch mit einem Hautlappen verbunden, sodass Mr Ingles Daumen in der Parodie einer Imperatorengeste nach unten zeigte, während Stecyk, der das Blut ebenso ignorierte wie die schrillen Verkleinerungsformen von »Mutter«, die mit dem Auslaufen der Bandsäge hörbar wurden, mit der einen Hand erst den Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose zog und dann das Lineal mit der metrischen Umrechnungstabelle aus der schmalen Spezialtasche des Tischlerschurzes nahm, über den sich Mr Ingle lustig gemacht hatte, und nachdem er im Kopf kurz das Verfahren durchgegangen war und im Einklang mit Cherry Ames, dipl. KS , entschieden hatte, dass digitaler Druck auf das Handgelenk nicht ausreichte, um die Blutung zu stoppen, legte er geschickt einen zweiknotigen Arterienabbinder an (mit einer kleinen spätviktorianischen Verzierung oben an der Vierschlaufenschleife, die umso verblüffender war, als Stecyk den Spezialknoten mit glitschigen scharlachroten Händen gebunden hatte, die außerdem das Gewicht eines halb ohnmächtigen Mannes stützten), was nach nur anderthalb Drehungen des unter den Gürtel geschobenen Lineals die Blutung stillte, so groß war die erlernte Präzision, mit der Stecyk den Arterienabbinder genau an der richtigen Stelle zwischen Ellen- und Speichenarterie angebracht hatte. In der dröhnenden Stille, nachdem das Sägeband zum Stillstand gekommen war, hörte man die Geräusche des pneumatischen Hebers aus der Anfängerklasse Kfz-Mechanik nebenan. Mit dem Erlöschen der Fontäne verlor Mr Ingle jetzt das Bewusstsein, und das letzte Bild für die ihn flankierenden größeren Jungen war, wie Stecyk den Schädel von Mr Ingle wie den eines Babys in seine Handfläche bettete und ihn mit dieser einen Hand sanft auf dem Fußboden ablegte, während die andere den Arterienabbinder am erhobenen Handgelenk festhielt, was etwas Tänzerhaftes und Mütterliches
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