Der bleiche König: Roman (German Edition)
nach drüben zur Hauswirtschaftslehre der Mädchen verdonnerte, sei, dass er dann wahrscheinlich ihre ganze geliebte Schule abfackeln würde!, woraufhin einige der größeren und grausameren Zehntklässler (von denen einer im Herbst darauf von der Schule flog, weil er eine Bärenfalle der Behörde zur Erhaltung von Natur und Artenvielfalt nicht nur aufs Schulgelände mitgebracht, sondern auch – mit gespannter messerscharfer Federfalle – vor der Bürotür des Stellvertretenden Schulleiters aufgestellt hatte, wo sie mit einem Besenstiel der Putzkolonne deaktiviert werden musste, den sie mit einem Geräusch zerbrach, das die Schüler in allen Klassenräumen am selben Korridor in Deckung gehen ließ) tatsächlich direkt auf Stecyk zeigten und lachten.
Es ist allerdings auch denkbar, dass der Vorfall mit dem abgetrennten Daumen weniger Leonard Stecyks Charakter geändert oder geformt hat als vielmehr seine Selbstwahrnehmung (sofern er über eine solche verfügte) und seine Wahrnehmung durch andere. Wie die meisten Erwachsenen wissen, sind die Unterscheidungen zwischen dem Wesen und Wert eines Menschen und den Wahrnehmungen dieses Wesens/Werts durch andere Menschen besonders in der Pubertät unscharf und schwer zu beschreiben. Hinzu kommt, dass sich Leonard Stecyk an bestimmte Aspekte von Situation und Kontext des Vorfalls auch in Träumen oder fragmentarischen Rückblenden gar nicht mehr erinnern kann. Es war darum gegangen, dass sie für die Verstärkung des Rahmens einer in einer Innenwand einzuhängenden Tür eine Rigipsplatte in Bänder oder Streifen schneiden sollten. Die Bandsäge war in einen breiten Metalltisch mit Maßanzeigen und kalibrierten Schraubzwingen eingesetzt, in die man den zu sägenden Gegenstand einspannen und ihn dann sorgfältig so über die glatte Fläche schieben musste, dass das Band der Hochgeschwindigkeitsbandsäge entlang der Bleistiftlinie sägen konnte, die man nach mindestens zweimaligem Ausmessen gezeichnet hatte. Es gab natürlich detaillierte Sicherheitsanweisungen, die Mr Ingle sowohl in den vervielfältigten Werkraumvorschriften ausgeteilt als auch auf Warnschildern mit schablonierten Großbuchstaben gezeichnet und überall, auch an der Gehäuserückwand der Bandsäge, befestigt hatte, Vorschriften, die Leonard Stecyk nicht nur auswendig gelernt hatte, sondern an denen er auch hilfsbereit Druckfehler oder missverständliche Wendungen der schroffen Imperative hatte aufweisen wollen, woraufhin die eine Seite von Mr Ingles großem Gesicht unwillkürlich zu zucken und zu knittern angefangen hatte, ein allgemein bekanntes Anzeichen, dass sich der Mann nur noch mit Müh und Not beherrschen konnte. Die Realität hinter dem Übermaß an Schildern und auf den Werkraumboden gemalten gelben Warnstreifen war, dass Mr Ingle unter großem gefühltem Druck arbeitete und sich immer in einem Grenzbereich von Frustration und Wut befand, denn er wurde zur Verantwortung gezogen, wenn sich jemand verletzte, aber gleichzeitig waren viele seiner Schüler tollpatschige und verweichlichte »Kleverles«, Weicheier wie Stecyk und Moss hier oder aber langhaarige Straftäter in Militärparkas, die manchmal nach Marihuana und Pfefferminzschnaps stinkend zur Schule kamen und Regeln und Geräte demolierten, deren Gefährlichkeit sie keinen Respekt entgegenbrachten, sodass sie trotz der deutlich angebrachten Instruktionen an der Maschine und auf dem Fußboden BEI LAUFENDER SÄGE HINTER DER LINIE BLEIBEN innerhalb der deutlich markierten gelben Warnlinien neben der Bandsäge mit ihrem unabgeschirmten Sägeband standen, sodass ein sorgloser Schubser oder auch nur eine Geste ausreichten, eine Armbewegung, wenn man unbefugt im Randbereich stand; und als er das vielleicht zum fünften Mal in diesem Trimester aus vollem Hals demonstrierte, während diese Blindfische von Jugendlichen an der gelben Linie standen und ihm zusahen, machte er eine übertriebene Jugendlichengeste, seine rechte Hand kam versehentlich mit dem Band der Bandsäge in Berührung, und das nahm ihm genauso schnell, wie Mr Ingle ihnen prophezeit hatte, den Daumen und das umgebende interdigitale Gewebe bis zum Abductor pollicis longus ab und öffnete auch die Speichenarterie, woraufhin eine enorme Fontäne aus spritzendem Blut in die Höhe stieg, als Mr Ingle das rote Ding an die Brust drückte und, aschfahl vom Schock und den lähmenden Reflexen der Verletzung, zur Seite wankte. Genau wie praktisch alle anderen in der Klasse – aschfahl, mit offenen
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