Der bleiche König: Roman (German Edition)
mich, dass ich an der UIC in einem Hochhauswohnheim mit einem voll hippen Drittsemester aus Naperville zusammenwohnte, der ebenfalls Koteletten und Lederkette trug und auch noch Gitarre spielte. Er sah sich als Nonkonformisten, war ebenfalls total ziellos und nihilistisch drauf, steckte tief in der Drogenszene der Unikaputtniks und fuhr einen zugegebenermaßen absolut coolen Firebird 1972, für den, wie sich irgendwann herausstellte, seine Eltern die Versicherung zahlten. An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern, sosehr ich mich auch bemühe. UIC war die Abkürzung von University of Illinois, Chicago Campus, eine riesige Stadtuniversität. Unser Wohnheim lag direkt an der Roosevelt, und aus unserem großen Fenster sah man auf eine große Podologieklinik – an deren Namen ich mich aber auch nicht erinnern kann –, auf deren Dach werktags von acht bis zwanzig Uhr ein riesiges elektrisches Neonzeichen rotierte, das auf der einen Seite den Namen und eine auf 3668 endende mnemonische Telefonnummer und auf der anderen den riesigen farbigen Umriss eines menschlichen Fußes zeigte – eines den Proportionen zufolge weiblichen Fußes, fanden wir –, und ich erinnere mich, dass mein Mitbewohner und ich eine Art Ritual eingeführt hatten, uns abends um zwanzig Uhr am Fenster einzufinden, um zuzusehen, wie das Fußzeichen erlosch und das Rotieren einstellte, weil die Klinik schloss. Es wurde immer gleichzeitig mit den Klinikfenstern dunkel, und unserer Meinung nach gab es für alles einen Hauptschalter. Die Zeichenrotation hörte nicht abrupt auf. Sie wurde eher allmählich langsamer, und eine glücksradartige Spannung begleitete die Frage, wo das Zeichen schließlich anhalten würde. Das Ritual war folgendes: Wenn der Fuß auf dem Zeichen am Ende von uns wegzeigte, gingen wir in die UIC -Bibliothek und lernten, aber wenn der Fuß oder wichtige Teile davon auf unsere Fenster zeigten, nahmen wir das als ein »Zeichen« (mit der unglaublich klar auf der Hand liegenden Zweideutigkeit), ließen auf der Stelle sämtliche Hausaufgaben oder von uns erwartete Pflichten sausen und gingen in den Hat – die damals gerade angesagte UIC -Kneipe, wo Livebands auftraten –, tranken Bier, spielten Münzschnippen und erzählten anderen Leuten, denen die Eltern die Studiengebühren zahlten, von unserem Ritual mit dem Fuß, was uns zu nihilistischen und hippen Kaputtniks machte. Es ist mir ehrlich peinlich, mich an solche Sachen zu erinnern. Ich erinnere mich, wie das Podologiezeichen und der Hat aussahen, und sogar, wie es im Hat roch, aber ich kann mich nicht an den Namen meines Mitbewohners erinnern, obwohl wir in dem Jahr mindestens drei, vier Abende die Woche zusammen abhingen. Das Hat hatte nichts mit dem Meibeyer’s zu tun, der Hauptkneipe der Standardprüfer hier im RPZ , die ebenfalls ein Hutmotiv und einen ausgeklügelten Hutständer aufweist, aber das sollen historische IRS - und Wirtschaftsprüferhüte sein, die Hüte seriöser Männer. Die Gemeinsamkeit ist also reiner Zufall. Es gab sogar zwei Hats, wie bei einer Kette – den UIC -Hat an der Cermak Ecke Western und den Hat unten in Hyde Park für die motivierteren, zielstrebigeren Studenten der Univ. of Chicago. In unserem Hat wurde das Hat in Hyde Park von allen nur die »Jarmulke« genannt. Mein Mitbewohner war kein schlechter oder übler Typ, allerdings zeigte sich dann, dass er auf der Gitarre nur drei oder vier richtige Songs spielen konnte, die er dafür aber rauf und runter spielte, und sein Dealen rationalisierte er ungeniert als Form des sozialen Aufstands und nicht als reinen Kapitalismus, und sogar damals war mir klar, dass er gemäß den in den späten Siebzigern geltenden Standards des sogenannten Nonkonformismus ein absoluter Konformist war, und manchmal konnte ich ihn nicht riechen. Vielleicht habe ich ihn sogar ein bisschen verachtet. Als wäre ich davon ausgenommen gewesen – aber diese ungenierte Projektion und Verschiebung gehörten einfach zur nihilistischen Heuchelei jener Zeit.
Ich erinnere mich an die »Uncola« und dass die Noxzema-Werbung einen so aufdringlich lasziven Jingle hatte. Ich erinnere mich anscheinend an jede Menge Holzmaserungen auf Gegenständen, die nicht aus Holz waren, und an Kombis mit Seitenblechen, die auch wie Holz aussahen. Ich erinnere mich an Jimmy Carter, der in einer Strickjacke eine Rede an die Nation hielt und einen Bruder hatte, der ein Kaputtnik und öffentlicher Trottel war, der allein durch die Verwandtschaft eine
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