Der bleiche König: Roman (German Edition)
Schande für den Präsidenten darstellte.
Ich glaube nicht, dass ich gewählt habe. In Wahrheit kann ich mich einfach nicht erinnern, ob ich wählen gegangen bin oder nicht. Wahrscheinlich hatte ich es vor und habe rumerzählt, ich würde gehen, und dann wurde ich abgelenkt und bin irgendwie nicht dazu gekommen. Damit war ich wohl so ziemlich ein Normalfall jener Zeit.
Es versteht sich wohl von selbst, dass ich in der ganzen Zeit damals kaum eine Fete ausgelassen habe. Ich weiß nicht, inwiefern ich dazu was sagen soll. Ich trieb mich genauso viel auf Feten herum wie eigentlich alle meine Bekannten – genauer gesagt, exakt genauso viel oder wenig. Alle, die ich kannte und mit denen ich abhing, waren Kaputtniks, und das war uns auch klar. Es war auf seltsame Weise hip, sich dafür zu schämen. Eine schräge Art narzisstische Verzweiflung. Oder sich einfach ziellos und verloren zu fühlen – das romantisierten wir. Ich mochte Ritalin und manche Speedsorten wie Cylert, was eher ungewöhnlich war, aber was Feten anging, brachte jeder so seine Eigenheiten mit. Ich warf nicht viel Speed, weil an meine Lieblingssorten schwer ranzukommen war – über die stolperte man eher. Der Mitbewohner mit dem blauen Firebird stand auf Haschisch, was er immer als eine total softe Erfahrung beschrieb.
Im Rückblick bezweifle ich, dass mir jemals aufging, dass ich diesen Mitbewohner wahrscheinlich genau so sah, wie mein Vater mich sah – dass ich genauso ein Konformist wie er war, und außerdem ein Heuchler, ein »Rebell«, der von der Gesellschaft in Form seiner Eltern schmarotzte. Ich würde gern behaupten, ich wäre damals so klar im Kopf gewesen, dass dieser Widerspruch mir bewusst gewesen wäre, aber selbst wenn, hätte ich wohl nur einen hippen, nihilistischen Witz darüber gemacht. Gleichzeitig weiß ich, dass ich mir manchmal wegen meiner Ziellosigkeit und meiner mangelnden Entschlusskraft Sorgen machte, wie abstrakt und vielseitig interpretierbar damals alles war, und sogar, dass mir meine Erinnerungen schwammig und sinnlos vorkamen. Dagegen weiß ich, dass sich mein Vater an alles erinnerte – besonders an konkrete Einzelheiten, den genauen Tag und die Uhrzeit von Abmachungen, und frühere Aussagen, die jetzigen Aussagen widersprachen. Aber ich lernte auch, dass scharfe Aufmerksamkeit und ein lückenloses Erinnerungsvermögen zu seinem Job gehörten.
In Wirklichkeit war ich naiv. Ich wusste beispielsweise, dass ich log, machte mir aber kaum je klar, dass auch alle anderen um mich herum lügen könnten. Heute weiß ich, wie eingebildet das war und dass es die echte Wirklichkeit unscharf macht. In Wirklichkeit war ich ein Kind. In Wirklichkeit habe ich das meiste, was ich über mich weiß, beim Service gelernt. Das klingt vielleicht nach Schleimerei, ist aber die Wahrheit. Ich bin seit fünf Jahren hier, und ich habe wahnsinnig viel gelernt.
Ich kann mich aber auch daran erinnern, wie ich mit meiner Mutter und ihrer Partnerin Joyce gekifft habe. Sie bauten ihr eigenes Marihuana an, und das war zwar nicht besonders stark, aber darum ging es auch nicht, denn für sie war dabei eher das emanzipierte politische Statement wichtig und nicht das Highwerden, und meine Mutter legte geradezu Wert darauf, dass wir gemeinsam kifften, wenn ich zu Besuch kam, und mir war zwar nie ganz wohl dabei, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich es je abgelehnt hätte, mit ihnen »einen Joint durchzuziehen«, auch wenn es mir immer etwas peinlich war, wenn sie diesen Studentenjargon benutzten. Joyce und meine Mutter waren damals Teilhaberinnen eines kleinen feministischen Buchladens, und ich wusste, dass sich mein Vater ärgerte, weil er ihn über die Scheidungsvereinbarung mitfinanziert hatte. Und ich erinnere mich daran, wie ich einmal auf einem der Sitzsäcke in ihrer Wohnung in Wrigleyville saß, einen ihrer großen, dilettantisch gedrehten Doobersteins – das war damals zumindest im Großraum Chicago der hippe Kaputtnikausdruck für einen Joint – weiterreichte und zuhörte, wie Joyce und meine Mutter anschauliche und detaillierte Erinnerungen an ihre frühe Kindheit erzählten, und beide lachten, weinten und strichen sich zur emotionalen Unterstützung über die Haare, was mich nicht weiter kratzte – dass sie sich vor mir berührten und sogar küssten –, oder zumindest hatte ich da schon massig Zeit gehabt, mich daran zu gewöhnen, aber ich erinnere mich daran, dass ich zu der Zeit immer paranoider und nervöser wurde, denn wenn
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