Der bleiche König: Roman (German Edition)
ich mühsam eigene Kindheitserinnerungen zusammenkramte, stand mir wirklich lebhaft eigentlich nur die Szene vor Augen, wie ich den Rawlings-Fängerhandschuh, den mein Vater mir geschenkt hatte, mit Glovolium einrieb, sowie der Tag, an dem ich den Handschuh mit Johnny Benchs Autogramm bekam, aber die Wohnung von Mom und Joyce war wohl kaum der passende Ort, um über ein Geschenk meines Vaters ins Schwärmen zu geraten. Das Schlimmste war, dass meine Mutter dann anfing, Erinnerungen und Anekdoten aus meiner Kindheit zu erzählen, und ich merkte dann, dass sie sich an meine Kindheit viel besser erinnerte als ich mich selbst, als hätte sie Erinnerungen und Erfahrungen gepfändet oder konfisziert, die technisch mir gehörten. Wobei ich damals natürlich nicht den Ausdruck pfänden benutzte. Der gehört eher in den Service. Aber wenn ich heute daran zurückdenke, war das Kiffen mit Joyce und meiner Mutter jedenfalls oft keine angenehme, sondern eine absolut freakige Erfahrung – aber trotzdem haben wir praktisch jedes Mal gekifft. Ich nehme auch nicht an, dass meine Mutter es sehr genossen hat. Die ganze Angelegenheit hatte etwas von krampfigem Spaß und Pseudoemanzipation. Im Rückblick habe ich das Gefühl, meine Mutter wollte mich sehen lassen, dass sie mit mir reifer wurde und sich veränderte, dass wir beide auf derselben Seite des Generationskonflikts und uns immer noch so nahestünden wie in meiner Kindheit. Dass wir beide Nonkonformisten wären und meinem Vater symbolisch den Finger zeigten. Das Kiffen mit Joyce und ihr hatte jedenfalls immer etwas Verlogenes. Meine Eltern trennten sich im Februar 1972, genau in der Woche, in der Edmund Muskie auf seiner Wahlkampftour öffentlich weinte, was im Fernsehen immerzu wiederholt wurde. Ich weiß nicht mehr, warum er weinte, aber seine Chancen auf die Präsidentschaft gingen damit definitiv den Bach runter. In der sechsten Woche vom Theaterkurs in der Highschool lernte ich den Begriff Nihilist kennen. Ich weiß übrigens, dass ich Joyce gegenüber nicht richtig feindselig eingestellt war, nur erinnere ich mich, dass es mich immer irgendwie kribbelig machte, wenn nur wir zwei zusammen waren, und ich war heilfroh, wenn meine Mutter nach Hause kam und ich die beiden als Paar behandeln konnte, statt mit Joyce Konversation zu machen, was immer sehr kompliziert war, weil ich grundsätzlich das Gefühl hatte, es gäbe mehr Themen, die nicht zur Sprache kommen durften, als Gesprächsgegenstände, über die wir uns hätten unterhalten können, weshalb jeder Small Talk mit ihr an einen Slalomlauf am Devil’s Head erinnerte, wo die Tore nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt im Schnee stecken.
Im Nachhinein ging mir auf, dass mein Vater eigentlich geistreich und kultiviert war. Damals war er für mich nur halb lebendig, wie ein Roboter, ein Sklave der Konformität. Natürlich war er verklemmt, pingelig und schnell mit einer Abfuhr bei der Hand. Er war einhundert Prozent konventionelles Establishment und stand absolut auf der anderen Seite des Generationskonflikts – er war neunundvierzig, als er im Dezember 1977 starb, was also bedeutet, dass er in der Weltwirtschaftskrise aufgewachsen war. Ich glaube aber nicht, dass ich seinen eigentlichen Sinn für Humor je schätzen gelernt habe – er hatte eine Art, seine Pro-Establishment-Ansichten in knochentrockene Sprüche einzuflechten, die ich damals nicht begriff und deren Komik ich gar nicht mitbekam. Offenbar war ich es also, der damals keinen Humor hatte, oder aber ich fasste wie so viele Kinder alles Gesagte als persönlichen Kommentar und Wertung auf. Ich wusste ein paar Sachen über ihn, die ich in den Jahren der Kindheit hauptsächlich von meiner Mutter aufgeschnappt hatte. Dass er beispielsweise sehr, sehr schüchtern gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten. Dass er von mehr als nur der Gewerbeschule geträumt hatte, aber irgendwie die Brötchen verdienen musste – in Korea hatte er in der Abteilung Logistik und Versorgung gearbeitet, meine Mutter aber schon geheiratet, bevor er nach Übersee versetzt worden war, und nach dem Ausscheiden aus dem Militär musste er deshalb sofort einen Job finden. Menschen in ihrem Alter machten das damals so, erklärte sie mir – wenn man den Richtigen kennenlernte und wenigstens die Highschool hinter sich hatte, heiratete man, ohne groß darüber nachzudenken oder die eigene Entscheidung zu hinterfragen. Entscheidend ist, dass er sehr intelligent war und wie so viele
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