Der bleiche König: Roman (German Edition)
also ein paar Sekunden lang sah ich mich tatsächlich so, wie er mich gesehen haben muss, als er da oben stand und sah, was wir aus seinem Wohnzimmer gemacht hatten. Es war kein schöner Anblick, und dass er nicht herumgebrüllt oder mir die Daumenschrauben angelegt hatte, machte es nur noch schlimmer – er sah einfach nur mitgenommen aus und schien sich irgendwie für uns beide zu schämen –, und ich erinnere mich, dass ich ein paar Sekunden lang nachempfinden konnte, was er gefühlt haben musste, einen Augenblick lang sah ich mich durch seine Augen, was die ganze Sache viel, viel schlimmer machte, als wenn er wütend geworden wäre oder herumgebrüllt hätte, was er nie tat, auch nicht, als wir danach das erste Mal wieder allein in einem Raum waren – wobei ich mich auch nicht erinnern kann, wann das der Fall war, ob ich nämlich aus dem Haus geschlichen war, nachdem ich alles sauber gemacht hatte, oder mich ihm gestellt hatte. Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe. Ich verstand auch seine Bemerkung nicht, obwohl mir natürlich nicht entging, dass sie sarkastisch war und dass er sich entweder Vorwürfe machte oder sich verspottete, weil er ein »Werk« hervorgebracht hatte, das Taco-Bell-Verpackungen und Bierdosen einfach auf den Boden warf, statt sich die Mühe zu machen, aufzustehen und die vielleicht acht Schritte zum Mülleimer zu gehen. Später stieß ich allerdings aus reinem Zufall auf das Gedicht, aus dem er zitiert hatte, übrigens unter ziemlich abgefahrenen Umständen am SMZ in Indianapolis, und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, weil ich nicht mal gewusst hatte, dass es sich um ein Gedicht handelte – und dann auch noch um ein berühmtes, das von demselben englischen Lyriker stammte, der auch den echten Frankenstein geschrieben hatte. Und ich hatte nicht einmal gewusst, dass mein Vater englische Lyrik las, geschweige denn sie zitieren konnte, wenn er sich ärgerte. Kurz, wahrscheinlich steckte weit mehr in ihm, als ich je geahnt hatte, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich je gemerkt hätte, wie wenig ich über ihn wusste, bis es nach seinem Tod dann zu spät war. Aber ich fürchte, auch dieses Bedauern ist typisch.
Jedenfalls ist diese eine schreckliche Erinnerung daran, wie ich von der Couch aufsah und mich durch seine Augen sah, und an seine traurige und kultivierte Weise, seine Traurigkeit und Entrüstung zum Ausdruck zu bringen – diese Szene ist für mich, wenn ich heute daran zurückdenke, zum Sinnbild der ganzen Epoche geworden. Ich erinnere mich auch an die Namen der beiden Freunde von damals, an diesem verkorksten Tag, aber die sind hier natürlich unwichtig.
1978 wurden die Dinge dann wieder plastischer, schärfer und konkreter, und im Rückblick kann ich wohl Mom und Joyce zustimmen, dass ich in jenem Jahr »zu mir gefunden« und »die Kindereien hinter mir gelassen« habe und dass damals der Prozess einsetzte, etwas Initiative und Zielstrebigkeit in mein Leben zu bringen, was letzten Endes dann dazu führte, dass ich zum Service ging.
Es hat zwar nicht direkt mit meiner IRS -Berufswahl zu tun, aber dass mein Vater Ende 1977 bei einem Unfall im öffentlichen Nahverkehr starb, war ein schrecklicher Schock, der mein Leben veränderte, und ich hoffe natürlich, dass ich etwas Ähnliches nie wieder erleben muss. Für meine Mutter war es besonders schlimm, sie brauchte Tranquilizer, konnte das Haus meines Vaters aus psychischen Gründen nicht verkaufen, verließ Joyce und den Buchladen und zog wieder in das Haus in Libertyville, wo sie heute noch wohnt, und auch bestimmte Bilder von meinem Vater und ihnen beiden als jungem Ehepaar sind im Haus noch zu sehen. Es ist alles sehr traurig, und ein Hobbypsychologe würde wahrscheinlich sagen, dass sie sich selbst irgendwie die Schuld am Unfall gibt, obwohl ich besser als jeder andere weiß, dass das nicht stimmt und dass letzten Endes niemand eine Schuld an dem Unfall hat. Ich war dabei, als er passierte, und es lässt sich nicht leugnen, dass er hundertprozentig entsetzlich war. Auch heute noch kann ich mich an die ganze Angelegenheit mit so plastischen und konkreten Einzelheiten erinnern, dass es mehr von einer Aufzeichnung als von einer Erinnerung hat, was, wie ich mir habe sagen lassen, für traumatische Ereignisse nicht ungewöhnlich ist – und ich habe meiner Mutter auch nie lückenlos von Anfang bis Ende schildern können, was damals passiert ist, denn sie wäre am Boden zerstört gewesen; sie war so schon untröstlich,
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