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Der blinde Passagier

Der blinde Passagier

Titel: Der blinde Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
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gesundes neues Jahr.
    Während sich der Redner setzte, nahm der Schulchor wieder Aufstellung.
    „Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich mir immer zuviel denke und zuviel vorstelle“, flüsterte Peter Schimmelpfennig in diesem Augenblick. Er hockte zusammen mit dem kleinen Ulli Wagner neben dem Sheriff auf einem Stapel Sprungmatten. „Ich glaube nämlich nicht, daß ich einfach nur feige bin.“
    Der Schulchor begann von neuem zu singen. Er absolvierte seine drei Strophen, und damit war die Weihnachtsfeier zu Ende.
    Hausmeister Blaschke stand bereits am Hauptportal. Wenn er gegrüßt wurde, grüßte er zurück, und im übrigen guckte er freundlich zu, wie die Schüler der Eberhard-Ludwig-Schule in den Schnee und in ihre Winterferien hineinspazierten.
    Der Sheriff schob sein Rad neben Peter Schimmelpfennig und dem kleinen Ulli Wagner über den Gehsteig.
    „Irgendwo hab’ ich einmal gelesen“, sagte Peter gerade, „daß viele Menschen nur deshalb mutig sind, weil sie keine Fantasie haben. Sie stellen sich nicht vor, was alles passieren kann. Sie sind einfach nicht in der Lage, sich das vorzustellen.“ Der Untertertianer Schimmelpfennig schneuzte sich die Nase. „Weil sie eben keine Fantasie haben.“
    „Ein Glück, daß wir gerade Ferien machen“, meinte der Sheriff. „Da kann ich mir alles mal in Ruhe überlegen.“ Er kletterte auf sein Rad. „Tschüß, die Herrn, und schöne Ostereier!“
    Nach der Kreuzung an der Eisenacher Straße verabschiedete sich der kleine Wagner. Er wohnte gleich um die Ecke im Erdgeschoß eines vornehmen Hauses.
    „Also dann“, sagte Peter Schimmelpfennig. „Und brich dir nicht das linke Bein!“ Er wußte, daß die Wagners am ersten Feiertag zum Skifahren ins Walsertal wollten.
    „Schöne Weihnachten!“ antwortete Ulli. Plötzlich hatte Peter ein Päckchen in der Hand. Es war in buntes Geschenkpapier eingepackt und mit einer goldenen Kordel verschnürt. „Du darfst es aber erst heute abend aufmachen“, sagte der kleine Wagner noch und rannte los.
    „He, Ulli!“ rief Peter Schimmelpfennig hinter ihm her und hielt das Päckchen in der Hand — wie einen Regenschirm, den jemand vergessen hat.
    Aber der kleine Wagner rannte weiter, ohne sich umzudrehen, und verschwand schließlich unter den Menschen und hinter einer Häuserecke.
    Der Nachmittag verging wie im Fluge. Zuerst mußte der Christbaum, der schon seit acht Tagen auf dem Balkon stand, aufgebaut und geschmückt werden. Frau Schimmelpfennigs fünfundachtzigjährige Mutter, die alljährlich über Weihnachten zu Besuch kam, war abzuholen, und schließlich lag wieder einmal ein Zettel auf dem Küchentisch. Auf ihm war notiert, in welchen Geschäften noch abgeholt werden mußte, was Frau Schimmelpfennig bereits bestellt und bezahlt hatte.
    Dabei waren die Straßen um diese Zeit überfüllt. Die Autos krochen im Schrittempo hintereinander her. ln den Geschäften standen die Leute Schlange, und wer endlich bedient war, rannte sofort in ein anderes Geschäft und an das Ende einer neuen Schlange. Der ganzen Stadt schien erst im allerletzten Augenblick eingefallen zu sein, für die Feiertage noch ein Pfund Butter oder ein Kilo Tomaten zu kaufen.
    Aber dann, als die Dämmerung hereinbrach, waren die Straßen von einer halben Stunde zur anderen wie ausgestorben. Und als Peter Schimmelpfennig seine Mutter von der Untergrundbahn abholte, gab es in manchen Häusern schon vereinzelt Fenster, hinter denen Christbäume aufleuchteten.
    Frau Schimmelpfennig hatte sich bei ihrem Sohn untergehakt. Und Peter hatte ihr die große Segeltuchtasche abgenommen. So stapften sie jetzt durch den Schnee der fast leeren Straße.
    Eine Straßenbahn zuckelte vorbei. Sie war kaum besetzt.
    „Komm. gehen wir noch am Geschäft vorbei!“ bat Frau Schimmelpfennig plötzlich.
    „Einverstanden“, sagte Peter.
    Die beiden bogen in einer scharfen Rechtskurve um die nächste Ecke.
    Das „Geschäft“ war ein Laden in der Steinstraße, zwischen Tankstelle und Bäckerei. Er hatte ein Schaufenster, und sein Eingang lag vier oder fünf Steinstufen tiefer als der Gehsteig.
    Mutter Schimmelpfennig blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Von hier aus konnte sie den ganzen Laden übersehen.
    Im Augenblick war ein Gitter vor der Eingangstür, und hinter dem Schaufenster war eine Markise heruntergelassen. Aber man konnte auf einem Schild deutlich die weiße Schrift lesen: „Wir bügeln Ihre Wäsche“, und auf der Schaufensterscheibe stand noch: „Inklusive

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