Der blinde Passagier
schön.“ Und Frau Schimmelpfennig machte es genauso.
Von Peter hatte man eine ganze Weile kein Wort mehr gehört. Auch jetzt sagte er nicht viel. Er fiel nur seiner Mutter um den Hals, und dann stürmte er in sein Zimmer.
„Was ist es denn?“ wollte die Großmutter wissen.
„Ein Blitzlichtgerät“, antwortete Frau Schimmelpfennig.
„Und du wirst gleich sehen, wie es funktioniert!“ Peter kam mit seinem Fotoapparat zurück und montierte das neue Gerät an.
Die Großmutter, Frau Schimmelpfennig und Herr Sang Ping mußten sich vor dem Weihnachtsbaum aufstellen, und dann sagte Peter: „Guckt mal alle auf den Wandleuchter gegenüber und, wenn es geht, nicht ganz so traurig.“
Die drei vor dem Weihnachtsbaum lächelten, so gut es ging, und Peter drückte auf den Auslöser. Im gleichen Augenblick war es für den Bruchteil einer Sekunde taghell im Zimmer.
„Noch einmal!“ verlangte die Großmutter. „Ich hab’ vor Angst die Augen zugemacht.“ Peter knipste noch eine gute halbe Stunde durch die Gegend. Die Anwesenden fühlten sich wie Filmstars, hinter denen ständig die Fotoreporter her sind.
„Jetzt brauch’ ich aber bald meine Sonnenbrille“, drohte die Großmutter.
Frau Schimmelpfennig holte nacheinander noch zwei Flaschen Weißwein aus dem Kühlschrank, und zwischendurch gab es Kirschlikör.
Als es noch nicht zu spät war. telefonierte Peter mit dem kleinen Ulli Wagner und bedankte sich für das Weihnachtsgeschenk vom Nachmittag, das neueste Foto-Jahrbuch. „Und schönen Gruß auch an deine Eltern“, sagte Peter noch zum Schluß. Er kannte Frau und Herrn Wagner von einem Kaffeebesuch her.
„An deine Mutter ebenfalls einen schönen Gruß“, revanchierte sich Ulli.
Als Peter den Hörer wieder aufgelegt hatte, meldete sich die Großmutter zu Wort. „Ich schlage vor, daß der Herr aus China...“
„Herr Sang Ping ist nicht aus China“, protestierte Frau Schimmelpfennig.
„Also aus Japan oder sonstwoher.“ Die Großmutter nahm einen Schluck aus ihrem Kirschlikörglas und kicherte. „Also er soll jetzt ein Weihnachtslied mit uns singen. Und wenn er keines kann, dann zeigen wir ihm. wie es geht.“
Herr Sang Ping war einverstanden und entschied sich für „O Tannenbaum, o Tannenbaum“.
Die ersten zwei Zeilen machten ihm keine Schwierigkeiten.
„Du grünst nicht nur zur Sommerszeit“, half Frau Schimmelpfennig weiter.
„Du grünst nicht nur zur Sommerszeit“, wiederholte Herr Sang Ping.
„Nein, auch im Winter, wenn es schneit“, sang Peter.
„Nein, auch im Winter, wenn es schneit“, wiederholte Suwanna.
„Und jetzt das Ganze noch einmal von vorn“, schlug die Großmutter vor und zählte: „Eins — zwei — drei!“
Alle vier sangen gerade das Wort „Sommerszeit“, da klingelte es an der Wohnungstür.
„Wer kann das noch sein?“ fragte Frau Schimmelpfennig und wollte aufstehen. Aber Peter war schneller.
„Vielleicht ist es die Schäfer vom zweiten Stock“, überlegte Frau Schimmelpfennig. „Immer wenn sie beim Einkaufen was vergessen hat, kommt sie zu mir. Letzten Sonntag mußte ich ihr mit Büchsenmilch aushelfen.“
Aber es war nicht Frau Schäfer vom zweiten Stock.
„Herr Sang Ping. es ist für Sie“, sagte Peter, als er zurückkam. „Zwei Landsleute von Ihnen, es sei sehr dringend.“
„Entschuldigung“, sagte Herr Sang Ping und ging hinaus.
„Schade, es klappte gerade so gut“, bedauerte die Großmutter. Sie griff nach der Kirschlikörflasche und bediente sich noch einmal.
„Ich seh’ schon, du gewöhnst dich noch daran“, sagte Frau Schimmelpfennig lachend.
Die Stimmen im Korridor hatten sich inzwischen verloren.
„Ich glaube, er ist mit ihnen in sein Zimmer gegangen“, vermutete Peter.
„Was waren das für Leute?“ fragte Frau Schimmelpfennig.
„Zwei Asiaten. Es muß wieder stärker schneien. Ihre Mäntel und ihre Haare waren ganz naß.“
„Ich werde langsam müde“, gab die Großmutter bekannt.
„Zehn Minuten warten wir noch“, schlug Frau Schimmelpfennig vor, „und wenn ihr einverstanden seid, singen wir zum Abschluß noch einmal ,Stille Nacht, heilige Nacht’.“
„Einverstanden“, sagte die Großmutter und fing auch schon an. Während alle drei zusammen sangen und wieder in den Christbaum guckten, träumte Frau Schimmelpfennig von ihrem Laden in der Steinstraße. Peter dachte an die drei schulfreien Wochen, die jetzt vor ihm lagen. Und die Großmutter freute sich auf ihr warmes Bett. Nach der dritten Strophe war
Weitere Kostenlose Bücher