Der Blinde Uhrmacher - Ein neues Plädoyer für den Darwinismus
obgleich die Mutationen zufällig sind, ist die kumulative Veränderung über die Generationen hinweg keineswegs zufällig. Die Nachkommen einer beliebigen Generation unterscheiden sich von ihrem Elter in zufälligen Richtungen. Aber welcher Nachwuchs ausgelesen und in die nächste Generation weitergegeben wird, ist nicht zufällig. Das ist der Punkt, wo die Darwinsche Auslese ins Spiel kommt. Das Kriterium der Auslese sind nicht die Gene selbst, sondern die Körper, deren Gestalt von den Genen durch ENTWICKLUNG beeinflußt wird.
Die Gene werden nicht nur REPRODUZIERT, sie werden in jeder Generation auch an ENTWICKLUNG weitergegeben, das Programm, das den entsprechenden Körper auf dem Bildschirm wachsen läßt, wobei es seinen eigenen streng festgelegten Regeln folgt. In jeder Generation tritt ein ganzer »Wurf« von »Kindern« (d. h. Individuen der nächsten Generation) auf. Alle diese Kinder sind mutante Nachkommen desselben Elters, die sich von diesem in jeweils einem Gen unterscheiden. Diese sehr hohe Mutationsrate ist ein entschieden unbiologischer Zug des Computermodells. Im realen Leben ist die Wahrscheinlichkeit für ein mutierendes Gen häufig kleiner als eins zu einer Million. Ich habe eine so hohe Mutationsrate in das Modell eingebaut, weil die ganze Vorstellung auf dem Computerbildschirm für das menschliche Auge gedacht ist, und Menschen haben nicht die Geduld, eine Million Generationen lang auf eine Mutation zu warten!
Das menschliche Auge spielt eine aktive Rolle in dieser Geschichte. Es trifft nämlich die Auslese. Es betrachtet den Wurf von Jungen und sucht einen Körper zum Fortpflanzen aus. Der ausgewählte Körper wird dann zum Elter für die nächste Generation, und gleichzeitig wird ein Wurf seiner mutanten Jungen auf dem Bildschirm gezeigt. Das menschliche Auge tut hier genau dasselbe, was es bei der Züchtung von Rassehunden oder preisgekrönten Rosen tut. Unser Modell ist, mit anderen Worten gesagt, strikt ein Modell künstlicher Auslese, nicht natürlicher Auslese. Das Kriterium für »Erfolg« ist nicht das unmittelbare Kriterium des Überlebens wie bei der natürlichen Auslese. Wenn bei der natürlichen Auslese ein Körper das besitzt, was zum Überleben erforderlich ist, so überleben seine Gene automatisch, denn sie sind in ihm drin. Daher besteht eine Tendenz, daß Gene, die überleben, automatisch die sind, die den Körpern die Qualitäten verleihen, welche ihnen beim Überleben helfen. Bei den Computermodellen aber ist das Auslesekriterium nicht Überleben, sondern die Kunst, der menschlichen Laune zu gefallen. Nicht unbedingt der gedankenlosen, willkürlichen Laune, denn wir können uns dafür entschließen, ständig in Richtung auf irgendeine Eigenschaft, etwa »Ähnlichkeit mit einer Trauerweide«, auszulesen. Meiner Erfahrung nach ist der Mensch als Subjekt der Auslese jedoch häufig launenhaft und opportunistisch. Auch dies ist gewissen Formen der natürlichen Auslese nicht unähnlich.
Der Mensch sagt dem Computer, welchen Wurf des gegenwärtigen Nachwuchses er zum Fortpflanzen aussuchen soll. Dessen Gene werden zum Programm REPRODUKTION hinübergegeben, und es beginnt eine neue Generation. Wie die Evolution im echten Leben auch, geht dieser Prozeß endlos weiter. Jede Generation von Biomorphen ist jeweils nur einen einzigen Mutationsschritt von ihren Vorfahren und ebenso von ihren Nachkommen entfernt. Aber nach 100 Generationen EVOLUTION können die Biomorphen bis zu 100 Mutationsschritte von ihrem ursprünglichen Vorfahren entfernt sein. Und in 100 Mutationsschritten kann viel geschehen.
Ich hätte mir nie träumen lassen, wie viel, als ich mit meinem neugeschriebenen Programm EVOLUTION zu spielen begann. Am stärksten überraschte mich, daß die Biomorphe recht schnell aufhören können, wie Bäume auszusehen. Die grundlegende Gabelungsstruktur ist immer da, doch sie wird schnell verwischt, wenn die Linien sich kreuzen und von neuem überschneiden, wobei sie kräftige Farbmassen produzieren (in den abgedruckten Bildern nur in Schwarz und Weiß wiedergegeben). Abbildung 4 zeigt eine spezielle Evolutionsgeschichte, die aus nicht mehr als 29 Generationen besteht. Der Vorfahre ist eine winzige Kreatur, ein einzelner Punkt. Obwohl der Körper dieses Vorfahren ein Punkt ist, wie ein Bakterium in der Ursuppe, liegt in ihm das Potential zum Verzweigen in genau demselben Muster des zentralen Baumes von Abb. 3 verborgen, nur, daß sein Gen 9 ihm sagt, er solle sich nullmal
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