Der blonde Vampir
Bäumen hindurch und stelle dabei wahrscheinlich einen neuen Rekord im Hindernislauf auf. Sechs Meilen später stoße ich bei einer geschlossenen Tankstelle auf eine einsame Straße. Vor mir sehe ich eine Telefonzelle. Ich überlege, ob ich Seymour Dorsten anrufen soll, meinen neuen Freund, den ich beim Bogenschießen kennengelernt habe. Ein verrückter Gedanke. Ich täte besser daran, weiterzulaufen, bis ich eine belebtere Straße mit ein paar geparkten Wagen erreiche. Ich kann ein Auto in weniger als einer Minute kurzschließen. Meine Kleider sind blutgetränkt. Es wäre Wahnsinn, Seymour in diese schmutzige Geschichte hineinzuziehen. Vielleicht würde er alles seiner Mutter erzählen, man weiß ja nie. Aber irgendwie will ich, daß er mir jetzt hilft. Ich vertraue ihm. Auch wenn ich nicht weiß, warum.
Ich erhalte seine Nummer bei der Auskunft. Ich rufe ihn an. Er hebt nach dem zweiten Klingeln ab. Seine Stimme klingt aufgeregt.
»Seymour«, melde ich mich. »Ich bin’s, deine neue Freundin.«
»Lara.« Er scheint erfreut. »Was ist denn los? Wir haben vier Uhr morgens.«
»Ich habe ein kleines Problem und brauche deine Hilfe.« Ich blicke auf das Straßenschild vor mir. »Ich bin an einer Tankstelle an der Pinecone Avenue, etwa sechs oder sieben Meilen landeinwärts, Richtung Osten. Bitte, hol mich hier ab. Und bring ein paar frische Kleider für mich mit: eine Hose und ein Sweatshirt. Du mußt sofort losfahren und darfst niemandem erzählen, was du tust. Sind deine Eltern von dem Klingeln aufgewacht?«
»Nein.«
»Und warum warst du wach?«
»Woher weißt du, daß ich wach war?«
»Ich kann hellsehen.«
»Ich habe von dir geträumt. Vor ein paar Minuten bin ich aufgewacht.«
»Davon kannst du mir später mehr erzählen. Also, was ist – kommst du jetzt?«
»Ja. Ich denke, ich weiß, wo du dich befindest. Ist es eine Shell-Tankstelle? Das ist nämlich die einzige auf der Straße, soweit ich weiß.«
»Ja. Kluger Junge. Beeil dich. Und paß auf, daß deine Eltern nicht merken, daß du mitten in der Nacht das Haus verläßt.«
»Nur noch eins: Warum brauchst du frische Sachen zum Anziehen?«
»Das wirst du sehen, wenn du hier bist.«
Etwa eine halbe Stunde später trifft Seymour bei mir ein. Er ist entsetzt über mein Aussehen, aber wie sollte er das auch nicht sein? Mein Haar ist glutrot wie ein Vulkan bei Sonnenuntergang, und Seymour zuckt förmlich zurück, als er aus dem Wagen steigt.
»Was ist mit dir passiert?« will er wissen.
»Ein paar Burschen haben mich überfallen, aber ich konnte fliehen. Du wirst sicher verstehen, daß ich im Augenblick nicht mehr dazu sagen möchte. Hast du die Anziehsachen dabei?«
Er läßt mich keine Sekunde aus den Augen, als er hinter sich in den Wagen greift. Er hat mir eine blaue Jeans mitgebracht, ein weißes T-Shirt und zwei Sweater: einen grünen und einen schwarzen. Vor Seymours Augen beginne ich mich auszuziehen. Der Junge ist wegen mir weit gefahren und verdient eine kleine Belohnung. »Lara«, murmelt er fassungslos.
»Es macht mir nichts, wenn du mir zusiehst.« Ich knöpfe meine Hose auf und ziehe sie aus. »Hast du vielleicht ein Handtuch oder irgendein altes Stück Stoff im Wagen?«
»Ja. Willst du dir das Blut abwischen?«
»Das will ich. Holst du mir das Tuch?«
Er reicht mir ein fleckiges Geschirrtuch. Mittlerweile bin ich vollkommen
nackt. Ich säubere mein Haar, so gut ich kann, und wische mir das Blut von den
Brüsten. Dann greife ich nach der Kleidung, die Seymour mir mitgebracht hat. »Bist du sicher, daß du nicht zur Polizei willst?« fragt er.
»Ganz sicher.« Ich ziehe das T-Shirt über den Kopf.
Seymour kichert. »Wahrscheinlich hattest du Pfeil und Bogen dabei, als die
Burschen dir über den Weg gelaufen sind.«
»Ich war bewaffnet.« Ich ziehe das Sweatshirt an, schlüpfe wieder in meine
Boots und bündele meine blutige Kleidung. »Warte einen Augenblick. Ich muß
das hier loswerden.«
Ich verstecke die Kleidung zwischen den Bäumen, nachdem ich meine
Autoschlüssel und Slims Brieftasche aus der Hose geholt habe. Zehn Minuten
später bin ich wieder bei Seymour. Er sitzt bereits hinter dem Steuer, der Motor
des Wagens läuft, und die Heizung powert auf vollen Touren. Seymour ist so
anfällig, daß er sich leicht erkältet.
Ich lasse mich auf dem Beifahrersitz nieder.
»Mein Auto steht in Seaside, nicht weit entfernt vom Pier«, sage ich. »Kannst
du mich hinbringen?«
»Sicher.« Er legt den ersten Gang ein. Wir fahren Richtung Norden.
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