Der blonde Vampir
verunsicherte dich. Du hobst dein Schwert, und wieder ertönte aus deiner Kehle
dieser merkwürdige Laut. Aber der Vogel zog weiter seine Kreise, stieß tiefer
und tiefer. Du hattest Angst. Denn ihn konntest du nicht aufhalten.« »Das ist noch nicht geschehen«, flüstere ich.
»Wie bitte?«
»Nichts. Was für ein Vogel war es?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»War es eine Krähe?«
»Vielleicht.« Er runzelt die Stirn, überlegt. »Ja, ich glaube, es war eine
Krähe.« Dann sieht er mich verblüfft an. »Du magst keine Krähen, was?« »Es sind Kreaturen, die für Einsamkeit und Tod stehen.«
»Das ist mir neu. Woher weißt du das?«
»Erfahrung.« In den nächsten Minuten sitze ich schweigend und mit
geschlossenen Augen da. Seymour ist sensibel genug, um zu wissen, daß er
mich jetzt nicht stören darf. Er hat die Gegenwart gesehen, denke ich, warum
kann er nicht auch in die Zukunft blicken? Yaksha kreist mich ein, kommt näher
und näher. Meine alten Tricks werden ihn auch diesmal stoppen. Meine Stärke
und Geschwindigkeit haben mich stets als Sieger hervorgehen lassen. Die Nacht
ist fast vorüber, bald wird der Tag anbrechen. Aber für Kreaturen wie uns ist der
Tag die Nacht – die Zeit der Ruhe, des Versteckens, der Verzweiflung. Tief in
meinem Innern weiß ich, daß Yaksha nicht fern ist.
Aber Krishna hat mir versprochen, daß ich seine Gnade erlebe, wenn ich ihm
Gehorsam schenke.
Und das habe ich getan. Aber vielleicht hat er auch Yaksha etwas
versprochen. Das gleiche?
Ich glaube es nicht.
Wenig später öffne ich die Augen und starre auf die Straße, die vor uns liegt.
»Hast du Angst zu sterben, Seymour?«
Er nimmt die Frage so ernst, wie ich sie gemeint habe. »Warum fragst du
das?«
»Du hast Aids. Und du weißt es.«
Er atmet hastig ein. »Wie hast du es erfahren?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß manche Dinge eben. Und dir geht es
nicht anders. Wie hast du dich angesteckt? Du bist nicht schwul. Schließlich
konntest du kaum den Blick abwenden, als ich mich vorhin umgezogen habe.« »Du hast einen unglaublichen Körper.«
»Danke.«
Er nickt. »Ich bin tatsächlich HIV positiv. Die Krankheit ist schon
ausgebrochen. Ich habe alle Symptome: Müdigkeit, Hautkrebs, wiederkehrende
Anflüge von Lungenentzündung. Aber in den letzten paar Wochen habe ich
mich gut gefühlt.« Er zögert. »Sehe ich tatsächlich so übel aus?«
»Du siehst umwerfend aus. Aber eben krank.«
Er schüttelt den Kopf. »Vor fünf Jahren hatte ich einen Autounfall. Milzriß.
Der Fahrer war ein Onkel von mir. Er starb an der Unfallstelle, aber mich haben
sie rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht und operiert. Außerdem bekam ich ein
paar Bluttransfusionen. Zu der Zeit wurden alle Konserven schon auf HIV-Antikörper untersucht, aber irgendwie müssen einige Blutkonserven durch die
Kontrolle gerutscht sein.« Er zuckt mit den Schultern. »So bin auch ich ein
Bestandteil der Statistik geworden. Wolltest du deswegen von mir wissen, ob
ich Angst vor dem Sterben habe?«
»Es war zumindest einer der Gründe für meine Frage.«
»Ja, ich habe Angst. Und ich glaube, daß jeder, der sagt, er habe keine, lügt.
Aber ich versuche, nicht ständig daran zu denken. Schließlich lebe ich noch.
Und es gibt vieles, was ich noch tun will…«
»Zum Beispiel Geschichten schreiben«, unterbreche ich ihn.
»Ja.«
Ich beuge mich zu ihm hinüber und berühre sanft seinen Arm. »Wirst du eines
Tages auch eine Geschichte über mich schreiben?«
»Wovon sollte sie handeln?«
»Das bleibt dir überlassen. Aber du solltest dir nicht zu lange den Kopf
darüber zerbrechen. Schreib einfach, was dir gerade in den Sinn kommt.« Er lächelt. »Wirst du die Geschichte lesen?«
Ich ziehe meine Hand zurück und lehne mich wieder in den Sitz. Ich schließe
die Augen; plötzlich fühle ich mich merkwürdig erschöpft. Ich bin unsterblich –
zumindest habe ich das bis heute nacht geglaubt. Aber jetzt auf einmal fühle ich
mich verletzlich. Ich habe nicht weniger Angst vor dem Tod als jeder andere
auch.
»Falls ich die Gelegenheit dazu habe, werde ich das«, sage ich.
8.
KAPITEL
Seymour bringt mich zu meinem Wagen und versucht, mir nach Mayfair zu folgen. Aber ich gebe Gas, bis ich bei etwa hundert Meilen die Stunde angelangt bin, und presche ihm davon. Er ist deswegen nicht beleidigt, da bin ich sicher. Schließlich habe ich ihm gesagt, daß ich es eilig habe.
Ich fahre zu meinem Haus am Meer. Bisher habe ich darauf verzichtet, es zu beschreiben, denn für mich
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