Der Blut-Mythos
bereits verlassen, als sie abrupt stehenblieb. Sie hob den Kopf. Über sie hinweg segelte ein großer Schatten. Sehr dunkel, aber mit einem roten Zeichen versehen, dessen Umrisse wie der Schweif bei einem Kometen verliefen.
Das war er. Das war ihr Herr. Er ließ sie nicht im Stich. Er würde ihr Schutz geben.
Sie wollte ihn fühlen, lieben, anfassen und streckte deshalb mit einer unsicher anmutenden Geste den rechten Arm in die Höhe. Sie bekam ihn nicht zu fassen, und Dracula II senkte sich auch nicht in ihre Nähe, um sie zu begrüßen.
Er flog weiter. Dabei tauchte er wie ein düsteres Gebilde in ein dunkles Meer ein und war verschwunden. Aber er war da, und nur das zählte!
Die Umgebung kreiste immer wieder vor ihren Augen. Sie war gezwungen, langsamer zu gehen und den Trank erst einmal zurückzustellen. Die Kraft würde nach und nach in ihr erwachen, ebenso wie die beiden Zähne, deren Druck sie schon spürte. Ihre Waffen. Marita sah den Rummel, wie er sich immer deutlicher abhob. Der bunte Wirrwarr aus zahlreichen Lichtern, die sich zu einer irren Farbmischung zusammenfügten.
Die Musik und das Schreien störte Marita. Sie haßte es. Immer wieder verzog sie ihr Gesicht, sie war plötzlich wütend, und sie ging schneller, aber auch schaukelnder.
Das fiel einem Mann auf, der ihr entgegenkam. Er gehörte zum fahrenden Volk und trug als Kleidung nur einen Overall. Er roch nach Öl und Fett.
Der Mann stellte sich der leicht taumelnden Person in den Weg. »He, was ist los mit dir?«
Marita hörte die Stimme wie durch einen Filter gedämpft. Sie kümmerte sich nicht um die Frage und ging weiter.
»Was ist? Warum sagst du nichts?« Er wollte nach ihr fassen. Darauf hatte Marita gewartet. Sie war schneller, umklammerte das Handgelenk des Überraschten und riß den Arm so weit in die Höhe, daß er beinahe gebrochen wäre.
Sie hörte die erschreckten und schmerzerfüllten Schreie des anderen, dann wuchtete sie ihn einfach wie einen leeren Sack zu Boden und trat ihm noch gegen die Brust. Der Mann überschlug sich, bevor er auf dem Bauch liegenblieb.
Marita durchfuhr der Gedanke, sich auf ihn zu stürzen und sein Blut zu trinken, doch sie behielt ihre Gier unter Kontrolle.
Sie wollte weiter, und zwar dorthin, wo es mehr Menschen gab. Da konnte sie zwischen Hunderten von Besuchern wählen.
Die Untote erreichte die ersten Stände an der Seite.
Schlichte Buden, hinter denen sich die Verkäufer langweilten, weil um diese Zeit kaum jemand etwas kaufte. So blieben die Spielzeuge, die Herzen und auch die zahlreich vorhandenen Tücher und T-Shirts von Käuferhänden unberührt. Nicht aber von Marita.
Wie eine Betrunkene streifte sie nahe an den Vorderseiten der Stände entlang. Mit Kopf und Schultern berührte sie die ausgestellten Gegenstände und erlebte auch den wütenden Protest einer älteren Frau, die dabei die Glutspitze einer Zigarette gegen sie stieß. »Kannst du nicht aufpassen, verdammt?«
Marita drehte nur kurz den Kopf. In dieser Spanne konnte die Frau das Gesicht sehen. Sie erschrak so sehr, daß sie ein Kreuzzeichen schlug und den Glimmstengel fallen ließ.
Als der Schock über den Anblick des Gesichts vorbei war, torkelte die Untote bereits auf die Mitte der Gasse und hörte nicht mehr, wie die Frau von einer bösen Hexe sprach.
Es war eine der breiteren Straßen, die zu den zentralen Stellen des Rummels führten. Dort hielten sich auch die meisten Menschen auf. Für Marita rückte die Beute näher. Noch nahm sie ihre Umgebung nicht so auf wie als normaler Mensch. Sie hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Ihr Blickfeld war eingeengt. So sah sie nicht so deutlich, was sich rechts und links abspielte. Dort lösten sich die Konturen immer mehr auf. Aber sie glotzte nach vorn. Gesichter erschienen. Schweißbedeckt. Anstrengung zeichnete sich auf ihnen ab. Manche waren verzerrt, andere wiederum gaben sich gelöst. Sie sah Menschen, die ihre Bierdosen mitgenommen hatten und während des Laufens tranken. Viele bewegten sich nicht mehr sicher.
Andere waren so abgefüllt, daß sie irgendwo einschliefen. Kaum ein Luftzug bewegte sich in den Budenstraßen. Keine Frische. Die Luft stand wirklich wie Blei.
Und über allem toste die Musik. Da war keine Melodie zu Ende zu hören. Die einzelnen Hits gingen ineinander über, und gegen diesen Lärm schien noch die Stimmen der Losverkäufer an.
Auch Marita bewegte sich an einer breiten Losbude vorbei. Es war der letzte Stand vor ihrem eigentlichen Ziel.
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