Der Blutfluch: Roman (German Edition)
trug. Es war der Fluch, sie würde allen den Tod bringen.
Der Gedanke an ihre Großmutter versetzte sie in völlige Kopflosigkeit. Sie begann an den Toten zu zerren, suchte die Gesichter. Aber die nassen Körper waren zu schwer, sie zu bewegen. Rupert griff nach ihren Händen, hielt sie von ihrem Tun ab.
»Hör auf damit. Lass die Toten ruhen. Ich bitte dich.«
»Großmutter. Mutter«, stammelte Aliza.
»Komm zu dir. Es ist zu spät. Du kannst nichts mehr für sie tun.«
Auf Ruperts Befehl hin legten seine Begleiter die Leichen nebeneinander. Auch ihre Großmutter war darunter, die Kehle klaffend durchschnitten.
Die Letzte in der Reihe war Leena.
»Mutter. Lasst mich zu meiner Mutter.«
Leenas Körper wies keine Stich-oder Hiebwunden auf. Eine aufgedunsene Beule an der Schläfe schimmerte bläulich. Ein dünner Blutfaden zeichnete das rechte Ohr. Die Brandwunden an ihren Beinen mussten grauenvolle Schmerzen verursacht haben. Mit eisig nassen Fingerspitzen berührte Aliza die Wangen der Frau, die sie fast ein Leben lang für ihre Mutter gehalten und als solche geliebt hatte.
»Was soll ich tun ohne dich, Mutter?«, weinte sie.
»Aliza?«
Leenas Lider flatterten.
»Du lebst! Was ist geschehen, Mutter?« Aliza musste an sich halten, sie nicht zu schütteln und zu bedrängen.
»Krieger, Bewaffnete. Einer hatte Sizma … in seiner Gewalt. Sie war …, ihr Gesicht war verletzt … Ich wollte …, aber … Sie warfen Feuer in die Wagen und töteten … Dann traf mich ein Schlag. Wo sind …«
Sie wusste nicht, dass sie als Einzige noch am Leben war, begriff Aliza.
»Du quälst sie nur, wenn du sie weiter bestürmst mit Fragen«, mahnte Rupert.
Etwas in ihr sagte ihr, dass Rupert recht hatte. Zart strich sie Leena über die Wangen.
»Du darfst nicht sterben, Mutter«, weinte sie. »Nicht so, ohne Kerzen, die den Totengeist abwehren und …«
»Adeliza … deine Mutter … Sie hieß Adeliza. Du sollst wissen … Sie war die Tochter eines Magistrats in Besançon. Ihr Onkel hieß … Cornet … Eléazar Cornet. Großmutter wusste es … hat …«
Atemlos wartete Aliza darauf, dass sie weitersprach. Sie neigte sich so tief über die Lippen der Sterbenden, dass sie sie fast berührte, aber der Mund blieb stumm. Leena war den anderen gefolgt.
»Sie ist tot, Aliza.«
Sobald das Tamara-Geflüster, für Ruperts Ohren unverständlich und stockend, verstummt war, zog er Aliza auf die Beine.
»Konnte sie dir sagen, wer sie überfallen hat und warum?«
Sie hörte Ruperts Frage, ohne den Sinn zu verstehen.
Leena tot, die Sippe ausgelöscht. Meine Schuld! Was soll ich tun?
»Was soll ich tun?«, wiederholte sie laut. »Ich kann weder ein Totenmahl für sie abhalten noch ihr den Weg in die Gemeinschaft der wohlgesinnten Ahnen zeigen. Wie soll ich die Totenwache für sie halten?«
Am liebsten hätte Aliza sich zu Leena gelegt, sie in die Arme genommen und darauf gewartet, dass der Tod auch sie erlöste.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine befehlende Geste Ruperts wahr und sah die Eskorte sich neu sammeln.
»Aufbruch? Ihr wollt unsere Toten so liegen lassen?«, stammelte sie entsetzt.
»Die Männer der Burg werden sie begraben, wenn sie Kenntnis von dem Unglück erhalten, Aliza.«
»Wenn sie nicht selbst die Mörder sind! Habt Ihr es gehört? Die Mörder waren Krieger. Die Todesschreie, die brennenden Wagen, glaubt Ihr, man konnte das von den Zinnen der Burg überhören, übersehen? Die Morde sind mit Billigung der Donaustaufer geschehen, mit Billigung des Fürstbischofs und seiner Kirche. Die Schlächter und Mörder waren nur die Handlanger der Mächtigen. Reitet nur«, schloss sie im Ton höchster Verachtung. »Ich bleibe bei den Toten.«
»Um was zu tun?«
Wie Feinde standen sie sich gegenüber.
Wo blieben die stummen Gefühle füreinander? Aliza überkam bei allem Elend sogar Scham, dass sie sich hingezogen gefühlt hatte zu Rupert.
»Um die Toten zu ehren. Warum sollte ich überlebt haben, wenn nicht deswegen?«
»Du weißt nicht, was du redest. Willst du ihnen mit eigenen Händen Gräber schaufeln? Solange wir nicht wissen, wer diese Greuel weshalb begangen hat, ist auch dein Leben bedroht. Die Königin erwartet, dass ich dich gesund zurückbringe. Wir brechen auf. Hier können wir nichts mehr ausrichten.«
»Nein. Ich habe schon zu viel falsch gemacht. Das mache ich richtig. Ich schulde es meinem Stamm.«
»Dann erklär mir wenigstens, was genau du tun willst.«
Die Erkenntnis, dass sie Hilfe
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