Der Blutkelch
seine Ansichten verbreitete. Wäre sie in ihrem Glauben gefestigt gewesen, hätte sie es nicht nötig gehabt, ihren Glauben zu verteidigen, indem sie seine kritische Stimme auf so schreckliche Weise zum Schweigen brachte.«
»Eine bemerkenswerte Überlegung, Eadulf. Und doch sage ich noch einmal, die Furcht davor, dass etwas wahr sein könnte, macht es noch lange nicht wahr. Am Ende kommt es darauf an, woran man tatsächlich glaubt.«
»Es gibt zahllose Menschen, die an Christi Auferstehung und Himmelfahrt glauben, die können doch nicht alle unrecht haben?«
»Wenn du es so siehst, steht auch die Frage: Können die zahllosen anderen, die an andere Gottheiten glauben, deshalb im Unrecht sein? Das ist eben das schier unlösbare Rätsel.«
»Wenn Donnchad nicht ins Heilige Land gepilgert wäre, hätte er keine Berührung gehabt mit den Dingen, die ihn an seinem Glauben zweifeln ließen. Er wäre weiterhin ein großer Gelehrter und Verkünder des Glaubens geblieben.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Sie musste lächeln. »Mit dem Zauberwörtchen ›wenn‹ können wir uns vielerlei herbeiwünschen.«
»Da ist noch eine andere Sache, die mich beschäftigt.«
»Bloß eine?«
»Es geht mir um die außergewöhnliche Abhandlung, die uns Bruder Donnchad hinterlassen hat. Handschriften wiedie Kommentare des Celsus oder die Erwiderung des Origenes darauf und das Werk auf Hebräisch, sie alle beschädigen den Glauben. Doch wir haben nie erfahren, was das für Werke waren, die er aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte und die er sorgsam in seiner Zelle aufbewahrte. Wegen dieser Schriften hat ihn seine Mutter getötet, und die Schriften selbst hat sie vernichtet. Was mögen sie enthalten haben, dass sie den Glauben eines so gebildeten Mannes wie Bruder Donnchad erschütterten?«
Fidelma zögerte, ehe sie ihm ernst antwortete: »Ich bin gewiss kein Theologe, Eadulf. Mein Wissen und Können liegt auf dem Gebiet der Gesetze und der Rechtsprechung. Deshalb habe ich beschlossen, die Beschränkungen, die Mönchen und Nonnen auferlegt sind, hinter mir zu lassen und mich ganz dem Gesetz zu widmen …« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Selbst wenn ich nicht Oberster Richter von Muman werde.«
Eadulfs Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er blickte unverwandt auf eine über den Wassern schwebende Libelle und den Strom vor ihm. Schließlich entrang sich ihm ein Seufzer. »Ich hätte gern gewusst, was mit Bruder Lugna wird.«
»Ich habe gehört, er will in sein Heimatkönigreich Connachta zurück und den jungen Gúasach mitnehmen. In der Abtei kann er schlecht bleiben, schon gar nicht, nachdem seine wahren Ansichten enthüllt wurden.«
»Hältst du ihn nun für einen Ketzer oder nicht?«
»Ich habe eben gesagt, ich bin kein Theologe. Daher maße ich mir nicht an, über Ketzerei zu urteilen. Ich weiß nur, seine Ansichten sind mir zuwider. Vielleicht erfüllt er sich eines Tages seine ehrgeizigen Pläne und gründet eine große Abtei in Connachta. Abt Iarnla jedenfalls muss nicht längerin Angst vor den unheilvollen Herrschergelüsten von Lady Eithne leben. Er kann seine Gemeinschaft mit stärkerer, selbstbewusster Hand leiten.«
»Und Lady Eithne … Sie ist für geisteskrank erklärt worden. Ich habe keine Vorstellung, wie so ein Urteil vollstreckt wird. Wird sie irgendwohin außer Landes geschickt?«
»Nicht ganz so. Sie ist für
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erklärt worden, das ist Wahnsinn im höchsten Grade, ein Zustand, in dem sie gemeingefährlich ist. Man wird sie an einen Ort bringen, den wir Gleann-na-nGeilt nennen, das Tal der Irren, im Westen unseres Königreichs. Dort wird sie unter Aufsicht bleiben. Das Gesetz schützt nicht nur die Gemeinschaft vor dem
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, sondern schirmt auch den
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vor gedankenlosen Mitgliedern der Gemeinschaft ab. Eithnes Rang und ihre Stellung als Burg- und Gutsherrin bedeuten, dass ihr bis ans Ende ihres Lebens ein Drittel der Einkünfte ihrer Ländereien für ihren Unterhalt zusteht.«
»Meinst du die Abtei Lios Mór wird jemals zu dem werden, was Lugna und der Lady vorschwebte?«
»Das möchte ich hoffen, aber nicht als Stein gewordener mythologischer Schrein, sondern als eine lebendige Stätte des Glaubens an die den Menschen innewohnende Güte, des geistigen Strebens und der Sammlung umfassenden Wissens.«
»Doch das Vorhaben, alle Gebäude der Abtei als Steinbauten neu zu errichten, das wird nun wohl zum Erliegen kommen?«
»Mein Bruder Colgú hat ein Drittel der
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