Der Blutkristall
genug war die Kleine allemal und ihre Auslagen mehr als verlockend. Sie schien seine Blicke nicht zu bemerken, zog ihn ungerührt weiter durch die Straßen und in seiner Vorfreude bemerkte er anfangs gar nicht, dass sie das Labyrinth der Gassen hinter sich gelassen und den Ortsrand von Chatham erreicht hatten. Der Mond hatte die Landschaft in ein silbernes Licht getaucht, es roch nach Heu und frischer Erde. Morgan atmete tief durch und fragte sich, wann er zuletzt so etwas gerochen hatte. Vielleicht noch nie, denn die wenigen Gerüche seines Heimatlandes, die er in Erinnerung hatte, stammten eher aus den Straßen Londons, wo sich der Abfall häufte und die Kamine ständig qualmten. «Dort vorne ist es!», riss ihn die Kleine aus seinen Erinnerungen, und er war ihr dankbar dafür. Da Morgan so weit gekommen war, konnte er das kurze Stück zu der windschiefen Kate, auf die sie zeigte, auch noch gehen. Obwohl er sich ein wenig wunderte, wie sie ihr Gewerbe erfolgreich ausüben konnte, wenn sie die ganze Nacht mehr auf den Füßen verbrachte als auf dem Rücken, wie es ihre Profession erforderte.
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen, dann spürte er es: etwas so Böses, dass sein Herz zu galoppieren begann, bevor sich seine Beine in Bewegung setzen konnten. Morgan fuhr herum, um sich gegen das Unbeschreibliche zu wehren, doch konnte er nicht mehr als den Umriss eines Mannes ausmachen, bevor ihm der Schmerz den Verstand und dann seine Sinne raubte.
Das Nächste, was er spürte, war eine kühle Hand, die über seine Stirn strich. «Chérie, er kommt zu sich!» Eine Frauenstimme, kultiviert und mit dem typischen Singsang einer geborenen Französin. Er hörte leichte Schritte, die sich entfernten, und stellte sich vor, wie sie durch den Raum glitt, die Röcke ein wenig geschürzt, darunter schmale Fesseln in zierlichen Pantoffeln. Ein barmherziger Engel in kostbarer Seide, die bei jeder ihrer Bewegungen raschelte. Viel edler war dieser Stoff aus dem fernen China als selbst das glatte Leinen, das seine Fingerspitzen berührten, wenn er über die Laken strich. Es war warm, ein Feuer knisterte und in der Luft lag der Duft von Lavendel und Bienenwachs, der ihn an glücklichere Tage seiner frühen Kindheit erinnerte. Mutter. War er im Himmel, wo man den Neuankömmlingen Ambrosia zu trinken gab? Gierig trank er aus dem Gefäß, das ihm jemand an die fiebrigen Lippen hielt.
Als er das nächste Mal erwachte, empfingen ihn weder zarte Frauenhände noch Göttertrank. Stattdessen wütete ein Feuer in seinen Eingeweiden, so fürchterlich, dass er sich wünschte, niemals geboren worden zu sein. Nadelspitzes Eis suchte ihn von außen zu durchbohren, und als er den Mund öffnete, um Erbarmen zu erflehen, verhinderte seine Zunge plump wie ein zu groß gewordenes fremdes Organ jedes Wort. Stattdessen war da ein animalisches Fauchen und es dauerte eine Weile, bis Morgan begriff, dass er es war, der dieses Geräusch verursachte. Seine Augen waren so geschwollen, er konnte sie kaum öffnen. Alles, was er wahrnahm, war eine schemenhafte Gestalt, die ihn an den Schultern packte. Er wurde aufgesetzt, jemand schob ihm ein Kissen in den Rücken und dann kehrte er auf einmal wieder zurück, der Duft von Ambrosia: süß, sinnlich und so verlockend, dass ihm der Mund jetzt wässrig wurde. Speichel tropfte von seinen Lippen, die Kiefer schmerzten und er begann zu zittern, als er das zarte Handgelenk erblickte. Fasziniert lauschte Morgan einem regelmäßigen Puls, der nicht seiner sein konnte, denn sein eigenes Herz galoppierte, als wolle es aus seiner Brust springen. Er versuchte sich loszureißen, unsicher, was dann zu geschehen habe, nur hin zu der Quelle und trinken. Trinken, bis das köstliche Elixier den Schmerz, die Gier, die Lust – alles in sich aufnahm und er wieder in die zärtlichen Arme seiner Schlafgöttin zurückgleiten durfte. Jemand hielt ihn zurück, der Puls schlug schneller, Morgan kämpfte, um freizukommen, und endlich sprudelte es hervor, das frische Blut eines jungen Mädchens, das mit gesenktem Kopf vor ihm kniete, ergeben und doch voller Angst, von dem wilden Raubtier in Stücke gerissen zu werden. Morgan hatte noch nie die Hand gegen eine Frau erhoben, er würde auch jetzt nicht brutal sein. Er kämpfte gegen die Blutlust an, beugte sich so langsam vor, dass seine Muskeln vor Schmerz zu schreien begannen. Als er seine Lippen auf ihr Handgelenk presste und zu trinken begann, entschlüpfte dem Mädchen ein Seufzer. Das war
Weitere Kostenlose Bücher