Der Blutkristall
Überlebenschance hätte. Der Magische Rat konnte jederzeit von ihren Bluttaten Wind bekommen und ließe sie in diesem Fall ohne zu zögern von einem Vengador zur Strecke bringen. Zu groß war die Gefahr, die eine unkontrollierbare Vampirin für die Sicherheit ihrer Art bedeutete. Denn unerkannt unter den Sterblichen leben konnten geschaffene Vampire, Licht- und Dunkelelfen nur, weil die meisten Menschen nicht an ihre Existenz glaubten. Heute, in Zeiten der Skeptiker und der Wissenschaft taten sie dies glücklicherweise noch weniger als in seiner Jugend, als man, ohne seinen christlichen Glauben zu verleugnen, Unschuldige der Hexerei bezichtigen konnte. Dies war – zumindest hier in Europa – vorbei. Voltaire und den anderen Aufklärern sei Dank. Und als ob es mit Morgans Verfehlungen noch nicht genug war, hatte er sich auch noch in das Protegé der Causantín-Brüder verliebt. Eine hinreißende Schönheit, von der alle Welt behauptete, sie hätte mit den beiden ein Verhältnis gehabt. Vivianne selbst hatte sich niemals eindeutig dazu geäußert. Deshalb wusste er nicht, ob er der Sache Glauben schenken konnte oder nicht. Aber sie hatte es auch nicht abgestritten, und in solch einer heiklen Angelegenheit nachzufragen, das kam ihm nicht in den Sinn.
Er war froh, Cyron auf seiner Seite zu haben. Der Elf hatte seine eigenen Geheimnisse, davon war Morgan seit seinem Auftauchen in Berlin mehr denn je überzeugt. Aber er respektierte dessen Schweigen und wollte sich nicht in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. Sie beide verband eine lange Freundschaft, die auf genau diese Art von Diskretion zurückzuführen war. Von ihm hatte Morgan erfahren, wer den Blutkristall hütete.
Er war versucht gewesen ihn zu stehlen, aber Cyron hatte ihn gewarnt, es sei besser, sich mit Vivianne anzufreunden und langsam ihr Vertrauen zu gewinnen, damit sie ihm half, Edna zu heilen. Er schien überzeugt, dass die Vampirin ein weiches Herz besaß. Morgan hatte lange gezögert, diese List anzuwenden, und dann, als er sich das Mädchen wenigstens einmal anschauen wollte, war ihm jemand zuvorgekommen. Wenn er jetzt zugab, dass nicht die Aussicht auf eine Belohnung oder gar Ritterlichkeit der Grund gewesen war, dass er ihr so bereitwillig seine Unterstützung angeboten hatte, würde sie ihm gewiss nicht helfen. Cyron war nun seine einzige Hoffnung. Der Elf, so vermutete er, war weit mächtiger, als es den Anschein hatte, und vielleicht würde er eine Lösung für den Blutkristall finden.
Vorher mussten sie natürlich den Dieb wieder einfangen, der ihnen, glitschig wie ein kleiner Fisch, erneut entschlüpft war. «Es gibt noch jemanden, den man um Hilfe bitten ...», begann er und wurde von einem zaghaften Klopfen unterbrochen. Morgan legte seinen Finger auf die Lippen und schlich zum Eingang. Draußen spürte er ein atmendes Wesen, definitiv kein Vampir, wahrscheinlich das Zimmermädchen. Ohne sich die Mühe zu machen, in ihre Gedanken einzudringen, riss er die Tür auf und prallte zurück. «Du kommst uns gerade recht!» Mit einem schnellen Griff packte er den Besucher am Arm und zog ihn
hinein.
«Wenn das mal nicht eine Überraschung ist», lachte Vivianne. «Hallo, Salai, was verschafft uns die Ehre?»
Der Elf ließ sich auf einen Sessel fallen. «Ja, ja. Ehre, fürwahr! Ich habe ein wenig Sonne getankt und mir dabei überlegt: Wenn ihr beiden so versessen auf den Blutkristall seid ...» Er machte eine Pause und sah Morgan scharf an. «Wobei ich keine Ahnung habe, warum du dich eigentlich eingemischt hast …»
Anstelle einer Antwort sah Morgan auf Salai herab, als sähe er statt des Diebs ein widerliches Insekt in dem Sessel sitzen. Vivianne lachte, was ziemlich bemüht klang, denn dieselbe Frage hatte sie sich auch schon gestellt. «Er ist halt ein Kavalier der alten Schule und außerdem der beste Versicherungsdetektiv, den ich finden konnte.» Die Spannung zwischen den beiden Männern war greifbar. «Du hast dir etwas überlegt», erinnerte sie den Elf, bevor der den Anstarrwettbewerb mit Morgan verlieren würde und sich womöglich wieder in Luft auflöste.
Er zwinkerte ihr zu, was ein Geräusch in Morgans Kehle verursachte, dass ihr die Haare zu Berge stehen ließ. War der Vampir etwa eifersüchtig? «Genau», unterbrach Salai ihre Überlegungen, bevor diese dem interessanten Pfad weiter folgen konnten, den sie gedanklich eingeschlagen hatten. «Ihr braucht den Stein, und ich will ihn loswerden. Ich weiß nicht, was diese
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