Der Blutkristall
Haben Feenprinzen überhaupt blaues Blut? Da es unwahrscheinlich war, dass Cyron ihr Gelegenheit geben würde, die in Frage kommende Flüssigkeit selbst in Augenschein zu nehmen, zuckte sie nur mit den Schultern. «Ich glaube, er ist ein bisschen mehr, als wir bisher geahnt haben. Salai scheint jedenfalls eine bisher unbekannte Seite an ihm entdeckt zu haben, und mir kommt er auch verändert vor.» Ihre Stimme verriet, dass sie dies für eine Untertreibung hielt. «Da müssen wir jetzt wohl durch, wenn wir den Blutkristall haben möchten.» Sie zögerte. «Du kannst natürlich hier bleiben ...»
Sie hatte zwar nicht ernsthaft erwartet, dass er ihr Angebot annahm, schließlich war es seine Idee gewesen, Cyron um Hilfe zu bitten. Auf eine derart heftige Reaktion war sie allerdings nicht vorbereitet. Morgan packte ihr Handgelenk und zerrte sie hinter sich her, die Treppe hinunter, über die die beiden Lichtelfen soeben verschwunden waren. «Au!» Vivianne klang eher erschrocken als von Schmerz gepeinigt, dennoch lockerte er seinen Griff ein wenig. Am Tempo, in dem er voranstürmte, änderte dies nichts.
Unten angekommen war Cyrons weißes Haar die einzige Orientierung, die sie hatten. Das unheimliche Leuchten von vorhin wäre jetzt sehr praktisch gewesen , fand Vivianne. Aber wie um ihr das Leben schwerer zu machen, schien seine hohe Gestalt mit der Dunkelheit eins geworden zu sein und auch Salai war überhaupt nicht mehr zu spüren. Fast, als hätte sich der arme Kerl in dem Augenblick selbst verloren, als er einem leibhaftigen Prinzen gegenübergestanden, oder besser gesagt, zu Füßen gelegen hatte.
Seite an Seite mit Morgan hastete sie dem schnell kleiner werdenden Leuchtpunkt durch dunkle Gänge hinterher. Vivianne hatte auf einmal überhaupt nichts mehr dagegen, sich seiner Führung anzuvertrauen. Sie fürchtete sich. Eine fremdartige Magie wurde mit jedem Schritt spürbar dichter, Wind wehte ihnen entgegen, erst kaum wahrnehmbar, dann unangenehm kühl und schließlich schneidend kalt. Sie befanden sich längst nicht mehr unter dem maroden Landhaus, der Boden war uneben, fiel zuweilen steil ab und stieg dann wieder an. Sie stolperten über Wurzeln, Steine und manchmal schlitterten sie sogar Stufen hinab, die unmöglich von Menschenhand geschaffen sein konnten. Ihre Füße begannen zu schmerzen und, so unglaublich es klang, sie froren. Irgendwo dort vorne aber tanzte ein Licht, dem sie unbedingt folgen mussten.
Zwischendurch hatte Morgan ihr gegen den Sturm zugerufen, dass sie sich nicht täuschen lassen dürfe von den merkwürdigen Geräuschen und Irrlichtern, die gelegentlich ihren Weg kreuzten. Was auch immer geschehen würde, sie müsse sich dicht an seiner Seite halten. Hier unten, das war ihr längst klar geworden, herrschten Feen, Trolle und vielleicht sogar Schlimmeres. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Cyron war offenbar alles andere als ein Freund, und sie hatte Morgan sehenden Auges mit ins Verderben gerissen.
Du darfst nicht zweifeln, mein Herz! Nabrahs Stimme.
«Wo bist du?», keuchte sie und hörte anstelle seiner Antwort nur ein heiseres Lachen, das ihr die Haare zu Berge stehen ließ. «Hast du das gehört?», rief sie Morgan atemlos zu. Doch ihr Begleiter griff nur ihre Hand fester und eilte wortlos weiter, nicht einmal sehen konnte sie ihn.
Doch dann verlangsamten sich seine Schritte. «Was ist das?» Ein leises Knistern, ein dumpfes Grollen. Vivianne war zu ihren Lebzeiten häufig in den Bergen gewesen. Was zunächst harmlos klang, kündete in Wahrheit oft von einer meist tödlichen Gefahr. «Eine Lawine!», schrie sie gegen den inzwischen tosenden Lärm an, und Morgan besaß die Geistesgegenwart, sie weiter festzuhalten und mit ihr gemeinsam den Schneemassen zu trotzen, die sie vorwärts spülten wie die Fluten eines gebrochenen Damms. Anfangs glaubte sie, ersticken zu müssen, bis ihr in den Sinn kam, dass sie Stunden ohne einen einzigen Atemzug aushalten konnte, wenn dies erforderlich sein sollte. Einmal, so erinnerte sie sich plötzlich, war sie tauchen gewesen, hatte angesichts der wunderbaren Unterwasserwelt, die auch im Mondlicht ihren Zauber zu entfalten vermochte, die Zeit vergessen und sich schließlich Stunden später an fernen Ufern wiedergefunden. Die Aufregung ihrer Familie war damals der Tatsache geschuldet gewesen, dass man die leichtsinnige Taucherin erst kurz vor Sonnenaufgang am Strand aufgelesen hatte. Darüber, dass sie ertrinken könnte, hatte sich niemand
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