Der Blutkristall
wollte sie jetzt nicht näher eingehen. «Irre ich mich oder liegt dort drüben das Anwesen des Statthalters? Gewagt, ausgerechnet hierher zu kommen.»
Morgan hatte diese Bedenken ebenfalls gehabt, als Cyron sie hierher bestellte. Doch der hatte nur gelacht und gemeint, der sicherste Ort sei immer der Platz dicht hinter dem Feind.
Er wollte zu einer beruhigenden Antwort auf Viviannes Frage ansetzen, da krächzte es über ihnen, Flügel rauschten und Nabrah ließ sich auf dem eisernen Tor zum Park nieder. Was steht ihr hier herum? Die Nacht ist nicht mehr jung!
Hi, Piepmatz! Vivianne freute sich, ihren gefiederten Begleiter wiederzusehen. Ich dachte schon, du hättest mich verlassen.
Auf keinen Fall, Prinzessin.
Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Wo ist « Mein Herz » geblieben?
Das, meine Schöne, hast du doch längst an jemand anderen verschenkt.
Unsinn! Aber sie wusste, dass er recht hatte. Trotz seiner finsteren Laune fand sie Morgan unglaublich attraktiv, wie er da stand und Nabrah misstrauisch ansah. Die Lichter der Nacht betonten seine Wangenknochen und den sinnlich geschwungenen Mund. Um ihre Gedanken in harmlosere Bahnen zu lenken, überlegte sie, Nabrah damit aufzuziehen, wie einfallslos es sei, den gleichen Spitznamen zu verwenden, den Morgan ihr gegeben hatte. Da hörte sie ein merkwürdiges Geräusch. Vivianne verstummte. Der Elf blickte mit so weit aufgerissenen Augen auf ihren Raben, dass kaum mehr als das Weiße des Augapfels zu sehen war. Und das Geräusch kam aus seinem Mund. Er klapperte mit den Zähnen.
«Es ist doch nur ein Vogel», versuchte sie ihn zu beruhigen und erlaubte sich gleichzeitig einen Blick in die Gedanken des Elfs. Doch dort gab es nichts zu sehen als eisige Landschaften und eine Angst, die sie so noch nicht einmal bei einem Sterblichen gespürt hatte, wenn er erkannte, welch blutgierigem Wesen er in die Hände gefallen war. Nicht, dass es zu ihren Gewohnheiten gehörte, Menschen zu Tode zu erschrecken, aber jeder junge Vampir schlug wohl anfangs gelegentlich über die Stränge, sobald er sich seiner Macht bewusst wurde. Nabrah ließ ein untypisches Geräusch hören, dass beinahe wie ein Lachen klang. Kommt endlich! Er öffnete seine Schwingen und flog ihnen voran die Allee entlang, ihrem Ziel entgegen. Als sie zum zweiten Mal binnen weniger Tage die ausgetretenen Stufen hinaufstieg, war Nabrah nirgendwo zu sehen, doch sie hatte auch nichts anderes erwartet. In der Eingangshalle begrüßte Cyron die kleine Gruppe mit ausdruckslosem Gesicht. Seine Aura schüchterte Vivianne ein und sie war froh, nicht in der Haut des Diebes zu stecken, dem die ganze Aufmerksamkeit ihres Freundes galt. Falls er überhaupt noch ein Freund war. Cyron war nicht wiederzuerkennen. Magie schien ihn zu umgeben wie Wolken gefrorenen Sauerstoffs. Wenn er nicht aufpasste, würde in Kürze jedes sensible Wesen in der Region wissen, dass etwas Unheimliches seinen Anfang genommen hatte. Morgan schien Ähnliches zu denken. «Ich hoffe, du weißt, was du tust», grollte er und gab dabei Salai einen Stoß, sodass dieser auf Cyron zustolperte. Bevor der Dieb diesen aber erreicht hatte, warf er sich auf die Knie, presste seine Hände auf den Boden und senkte den Kopf so tief, dass man annehmen musste, er würde Cyron gleich die Füße küssen. Regungslos verharrte er in dieser außerordentlichen Haltung und jammerte ohne Unterbrechung: «Hoheit, vergebt mir!»
Cyron blickte gequält, als er ein paar unverständliche Worte murmelte, und dann laut sagte: «Steh auf!»
Ohne sie weiter zu beachten, drehte er sich um und ging auf eine Treppe zu, die hinab in die Kellergewölbe führte. Salai folgte ihm wie fremdbestimmt, und Vivianne erinnerte sich daran, dass er einen Prinzen der Lichtelfen erwähnt hatte, der angeblich in der Welt der Sterblichen lebte. Aber Salai war Cyron doch schon öfter begegnet und sie fand es äußerst merkwürdig, dass er zuvor nichts von dessen womöglich königlicher Abstammung bemerkt haben sollte. Ihr war gewiss nichts aufgefallen. Andererseits waren ihre Erfahrungen mit Hoheiten bescheiden, wenn man einmal davon absah, dass sie ganz gerne romantische Liebesromane las, in denen es von Lords und Ladys nur so wimmelte, und die Berichte über die europäischen Adelshäuser verschmähte sie auch nicht. Vivianne spürte Morgans fragenden Blick auf sich ruhen. Er schien ebenfalls überrascht zu sein, aber es gab jetzt Wichtigeres als das möglicherweise blaue Blut ihres Freundes.
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