Der Blutrichter
beobachtete, wie sich der Kran drehte und sich die Säcke in den Bauch der Kogge senkten.
Als der Wagen beinahe vollständig entladen war, fiel der Kran aus. Der Alte fluchte auf gotteslästerliche Weise, und die Männer an den Seilen gingen erschöpft in die Hocke. Verärgert verließ der Kapitän sein Schiff, um zusammen mit dem Kranführer den Schaden zu begutachten. Die beiden redeten hitzig miteinander, vermochten den Fehler jedoch nicht zu beheben. Als der Kapitän seine Leute anwies, die restlichen Säcke an Bord zu bringen, weigerten sie sich.
»Das ist nicht unsere Arbeit«, sagte einer von ihnen.
Hinrik stieg vom Wagen herunter. Er erwog bereits, die restlichen Säcke an Bord zu tragen, weil er endlich zur Mühle zurückkehren wollte, entschloss sich jedoch, einen Blick in das Innere des Krans zu werfen. Er war handwerklich geschickt und hatte auf dem eigenen Hof zahlreiche Arbeiten durchgeführt, die weit über das hinausgingen, was von einem Bauern gefordert wurde. Er sah, dass die Seile tatsächlich über Rollen liefen, die mit schweren Eisenketten an zwei dicken Masten befestigt waren. Der Fehler war unschwer zu entdecken. Eine der Rollen hatte sich verkantet, so dass die Seile nicht einwandfrei laufen konnten. Vergeblich wies Hinrik den Alten darauf hin. Er fand kein Gehör.
»Du bist ein Esel«, tadelte er ihn. »Du betreibst den Kran, hast aber keine Ahnung, wie er funktioniert.« Er schob den Mann zur Seite, stieg durch die hintere Tür ein und schob sich an den Masten vorbei zur Rolle hin. Mit |139| einem Ruck brachte er sie wieder in die korrekte Richtung, und die Seile liefen einwandfrei, so dass die Verladung weitergehen konnte.
»Es ist ein Kreuz mit dem alten Hannes«, stöhnte der Kapitän, ein wahrer Riese von einem Mann, und strich sich sein schütter gewordenes Haar aus der Stirn. Er hatte blaue, wässrige Augen und einen mächtigen, bis auf die Brust herabreichenden tiefschwarzen Bart. »Der Alte kann sich kaum noch auf den Beinen halten, und mit dem Kran hat er laufend Schwierigkeiten. Er ist einfach zu alt. Man hätte ihn längst aufs Altenteil geschickt, wenn man einen Nachfolger für ihn finden könnte, einen jungen Mann, der ein bisschen was von Technik versteht.«
»Wer entscheidet denn das?«, fragte Hinrik.
Der Kapitän blickte ihn überrascht an. »Du arbeitest im Hafen und kennst dich nicht aus? Jeder weiß, wer hier das Sagen hat. Nur du nicht. Was bist du eigentlich für ein komischer Vogel?«
Hinrik blickte ihn schweigend an und wartete auf eine Antwort.
»Wilham von Cronen«, eröffnete ihm der Kapitän brummig, enttäuscht darüber, dass er das Gespräch nicht in die von ihm gewünschte Richtung lenken konnte. »Dem gehört hier so ziemlich alles, und was ihm nicht gehört, tanzt nach seiner Pfeife.«
Er deutete auf eine Gruppe aufwendig gekleideter Männer, die an einem der Lagerhäuser standen und miteinander redeten. Sie trugen kostbare Strümpfe, die sich bis über ihre Knie hinaufzogen und dunkle, bestickte und umsäumte Gewänder, die am Oberkörper eng anlagen und sich nach unten hin pluderartig weiteten. Hüte mit runden Krempen zierten ihre Köpfe.
»Das da drüben ist er. Der Grasbrook-Fürst. Der mit |140| dem weißen Bart. Siehst du das Mädchen, das ihn gerade anspricht und ihm etwas gibt? Das ist er.«
Er hatte ihn längst ausgemacht, und das Mädchen, das in recht vertrauter Art mit ihm redete und ihm mit einem gewinnenden Lächeln einen kleinen Korb reichte, war ihm keineswegs entgangen. Es war Evchen, die Tochter des Müllers. Sie kannte Wilham von Cronen offenbar sehr gut. Während sie sich miteinander unterhielten, widmete er ihr seine ganze Aufmerksamkeit, berührte sie sogar recht vertraulich am Arm oder an der Wange, was sie mit einem freundlichen Lächeln hinnahm.
Hinrik war erschrocken ob der Tatsache, dass es eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen ihr und von Cronen gab, und er erkannte, dass es höchste Zeit für ihn wurde, die Mühle zu verlassen. Evchen war zu seiner Feindin geworden. Sie sann auf Rache dafür, dass er sie verschmäht hatte, und er zweifelte nicht daran, dass sie ihn ohne das geringste Bedauern an von Cronen verraten würde, wenn sie erfuhr, weshalb er nach Hamburg gekommen war.
»Was ist los mit dir, Junge?«, fragte der Kapitän. »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Entschuldige. Grasbrook-Fürst? Wieso das?«
Der Kapitän schürzte die Lippen und musterte ihn kopfschüttelnd, als hätte er jemanden vor
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